© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    26/99 25. Juni 1999


In Versailles begann die Zerstörung internationalen Rechts
Der Feind wird zum Teufel
von Alain de Benoist

Nach vier Kriegsjahren waren wenige Franzosen bereit, sich gegen den Versailler Vertrag auszusprechen. Diese vier Jahre waren geprägt von einer antideutsche Propaganda, die unaufhörlich die "deutsche Barbarei" beklagte, sich über die "’kulturelle’ Anmaßung der Deutschen" lustig machte, die "deutsche Rasse" mit dem Stigma belegte, sich auf immer und ewig der Aggression und Monstrosität ihrer "barbarischen Instinkte" verschrieben zu haben. Diese Propaganda ging bis zum Rassismus, bekräftigten doch viele Pamphlete ausdrücklich, die Deutschen seien keine Menschen.

Auf der Rechten wurde dies sogar noch überboten. Die Monarchisten der Action francaise um Charles Maurras lehnten den Vertrag ab und verlangten seine Revision, da er ihnen zu moderat erschien. "Er ist zu hart, um Schwäche zu zeigen, und zu schwach, um Härte zu zeigen", so Jacques Bainville, der bedeutendste Historiker dieser Bewegung.

Die Teilung Deutschlands als Traumziel Frankreichs

Was den Monarchisten hauptsächlich mißfiel, war, daß der Vertrag keine Zerschlagung Deutschlands vorsah, sondern den "naiven" Glauben ausdrückte, ein geeintes Deutschland müsse lediglich an demokratische Prinzipien gebunden werden, um nicht länger "gefährlich" zu sein. Nach Meinung der Action francaise lag die "Gefahr", die von Deutschland ausging, weniger in der Ausrichtung und politischen Couleur seiner Regierung als in seiner bloßen Existenz als geeinter Staat. Das von ihnen angestrebte Ziel, das sie im Einklang mit der "weltlichen Politik" der französischen Könige sahen, war daher eine Teilung Deutschlands.

"Frankreich und ganz Europa", behauptet Bainville, "können nicht in Frieden leben und arbeiten, wenn im Zentrum Europas die deutschsprachigen Völker im selben Staat vereint sind". Ihm zufolge mußten die Alliierten, nachdem einmal Frieden eingekehrt war, die "Spaltung der deutschen Einheit" herbeiführen, indem sie Verträge nicht mit Deutschland, "sondern mit Preußen, mit Bayern, mit Sachsen, mit Württemberg und den anderen Einzelstaaten" abschlossen, um auf diese Weise "feudale Rivalitäten" wiederzuerwecken: "Dieses Verfahren, einzeln mit den unterschiedlichen Staaten zu verhandeln, dürfte sehr rasch ihre latenten Feindschaften aufleben lassen und neue Konflikte zwischen ihnen hervorrufen".

Gleichermaßen beklagt Bainville, daß die Alliierten nicht mit größerer Entschlußkraft die separatistischen Bewegungen unterstützt hatten, selbst die Aufstände, die zwischen November 1918 und Januar 1919 von Kurt Eisner in Bayern und Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg in Berlin losgetreten wurden: "Nicht nur haben die Alliierten nichts zur Unterstützung dieser Aufstände unternommen, sondern sie haben zu ihrer Unterdrückung beigetragen. Die modernen Demokratien verfügen nicht über die Kühnheit eines Richelieus, der die Aufständigen in den Ländern aller seiner Gegner unterstützte."

Die Monarchisten bedauerten sicherlich, daß der Friedensvertrag hauptsächlich von den Angelsachsen aufgesetzt wurde, die aus dem Wunsch heraus, "die Welt nach abstrakten Prinzipien von Recht und Gerechtigkeit zu organisieren", die politischen Probleme einem "juristischen und moralischen Menschenbild" unterordneten. Ihr wichtigster Kritikpunkt war jedoch, daß "die Lehren aus 1870 und 1914 nicht ausreichten, den angelsächsischen Regierungen das Fortbestehen der deutschen Gefahr klarzumachen. Sie glaubten, ihr Sieg habe diese auf einmal wie von Zauberhand aus der Welt geräumt. Und da sie darauf bedacht waren, mit Deutschland baldmöglichst ergiebige Handelsbeziehungen wiederherzustellen, wollten sie seine Kaufkraft stärken, die Wiederaufnahme industrieller Aktivitäten beschleunigen und dementsprechend seine nationale Einhalt als wichtigste Triebkraft erhalten."

Die Action francaise, die mit Vehemenz darauf besteht, als erste gefordert zu haben, daß Wilhelm II. zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde, hielt die Deutschland auferlegten finanziellen Reparationen für "lächerlich": "Es ging darum, die Deutschen zu zwingen, für sämtliche Kosten aufzukommen, die Reparation sämtlicher Schäden und die Entschädigung aller Kriegsteilnehmer zu übernehmen. Alle Mittel waren recht, um diese unverjährbare Schuld zu tilgen: die Requisition von Naturalien und menschlicher Arbeit, Zwangsabgaben, langfristige Kredite, ... (...) Deutschland konnte und mußte zahlen."

Nach dem Waffenstillstand, während in Deutschland immer noch Tausende von Menschen infolge der Blockade verhungerten, sah man von jeglicher ernsthaften Erforschung der wahren Kriegsursachen ab. In einem berühmten Artikel, der am Vorabend der Friedensverhandlungen am 17. Januar 1919 in der Frankfurter Zeitung erschien, hatte Max Weber in aller Form die alliierte These von der alleinigen Kriegsschuld Deutschlands zurückgewiesen.

Der Vertrag wurde lediglich zwischen den Siegern ausgehandelt, was ihn zu einem regelrechten Diktat macht. Die Alliierten kehrten den traditionellen internationalen Rechtsprinzipien den Rücken und führten statt dessen Begriffe wie "moralische Haftbarkeit" oder "Reparationen" ein. Aus der Überzeugung heraus, einen "Krieg des Rechts und der Zivilisation" gegen die "Barbarei" geführt zu haben, kriminalisierten sie die Verlierer. So fand die Idee der Strafjustiz zum ersten Mal Eingang in einen Friedensvertrag: der Kaiser und der Kronprinz waren nach Holland geflohen, nun verlangte man ihre Auslieferung.

"Der deutsche Dreckskerl wird zahlen!" lautete der Lieblingsrefrain der französischen öffentlichen Meinung. Man zählte auf die Reparationen – die Carl Schmitt als "dauerhafte und unbegrenzte wirtschaftliche Ausbeutung des Verlierers" bezeichnete –, um die französische Staatsschuld, vor allem gegenüber Amerika, zu begleichen und gleichzeitig sicherzustellen, daß Frankreich das staatliche Einkommen Deutschlands auf mindestens 40 Jahre hinaus übertreffen würde. Deutschlands Absturz in Elend und Inflation sollte der Monarchist Léon Daudet mit den Worten kommentieren: "Ich klatsche der deutschen Hungersnot Beifall!"

Anläßlich der Vorstellung des Vertrags am 7. Mai 1919 äußerte Georges Clemenceau: "Die Stunde der fälligen Abrechnung ist gekommen!" Der Leiter der deutschen Delegation, Graf Brockdorff-Rantzau, las seine Erwiderung im Sitzen vor, um zu zeigen, daß er sich nicht als Angeklagter verstand, der seinen Richtern gegenübersteht. Diese Geste wurde als "Unverschämtheit" beurteilt, die Clemenceau beleidigte und den amerikanischen Präsidenten Wilson "zornrot" anlaufen ließ.

Versailles befördert den jakobinischen Nationalstaat

Die Vorhersage des deutschen Reichspräsidenten Ebert hatte sich bewahrheitet: "Aus diesem erzwungenen Frieden werden ein neuer Haß zwischen den Völkern und Mordtaten im Laufe der Geschichte erwachsen." Ähnliche Prophezeiungen trafen John Maynard Keynes, dessen Rücktritt als Delegierter der Friedenskonferenz einen Eklat auslöste, Aristide Briant, ein alter Widersacher Clemenceaus, der sich weigerte, bei der Unterzeichnung des Vertrags anwesend zu sein, und Francois Poncet.

Die Vertragsunterzeichnung setzte einen Schlußstrich unter die Großreiche, die es kulturell unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen erlaubten, auf engem Raum friedlich zusammenzuleben. Sie besiegelte die Vorherrschaft der einheitlichen Nationalstaaten jakobinischen Stils. Aber die Nationalitätsfragen sind nirgendwo gelöst. Die von den Alliierten festgelegten neuen Grenzen enthielten den Keim sämtlicher künftiger Konflikte, weil sie menschliche Gegebenheiten mißachteten. Das erniedrigte Deutschland war bereit, jedem zu folgen, der diesen Schandfleck wegwischte und die Gerechtigkeit wiederherstellte.

Die historische und ideologische Bedeutung dieses Diktats ist nicht zu überschätzen. Sie reicht sehr viel weiter als das offensichtliche Unrecht seiner Klauseln oder die Einseitigkeit seiner Entstehung. Der Versailler Vertrag war ein fundamentaler Bruch in der Geschichte der politischen und internationalen Beziehungen. Genauso fundamental brach er mit dem traditionellen Kriegsverständnis.

Mit dem Versailler Vertrag übernahmen die modernen, moralisch und ideologisch motivierten Kriege die Rolle, die in der Vergangenheit Religionskriege spielten. Beiden gemeinsam ist, daß sie sich nicht einfach als traurige und gleichzeitig banale Realität darstellen, die unterschiedlichen, potentiell konflikthaften menschlichen Ambitionen entspringt. Den Kampf rechtfertigt statt dessen die Tatsache, daß er im Namen des Guten geführt wird. Hier zeigt sich eine Rückkehr zu der theologischen Vorstellung vom "gerechten Krieg", in dem alles erlaubt und jedes Mittel recht ist.

Ein solches Kriegsverständnis drückt sich etwa in den Worten Clemenceaus aus: "Der Krieg, der am 1. August 1914 begann, ist das größte Verbrechen gegen die Menschlichkeit und die Freiheit der Völker, das eine Nation, die sich als zivilisierte ausgibt, jemals bewußt begangen hat. (...) Das Verhalten Deutschlands ist einmalig in der bisherigen Geschichte der Menschheit." Seitdem ist der Gegner nicht mehr einfach jemand, gegen den man Krieg führt, weil die Umstände es verlangen, der aber schon morgen zum Verbündeten werden kann, wenn sich die Umstände ändern sollten. Kriege lassen sich nicht mehr mit einem "guten Frieden" abschließen, der die Ehre aller Beteiligten intakt läßt und nach Versöhnung strebt, sondern nur noch mit einer bedingungslosen Kapitulation.

Allerdings reicht selbst eine Kapitulation nicht aus, um den Konflikt zu beenden. Da das Böse stets zur Wiedergeburt neigt, muß es ein für allemal ausgetrieben werden. Die Niederlage ist nicht länger Strafe genug. Darüber hinaus müssen "Reparationen" auferlegt, Kriegsgegner vor Gericht gestellt, die überlebenden Männer und Frauen umerzogen, ihre Handlungen und sogar Gedanken strengstens überwacht werden. Der Krieg ist also nicht länger nur Angelegenheit der Kämpfenden. Er betrifft auch die Zivilbevölkerung, die sich mitschuldig macht, indem sie sich nicht von ihrer Regierung lossagt. Eine solche Zivilbevölkerung darf man im Zuge der Umerziehung ruhig auch massakrieren.

Im November 1918 hatte Marschall Foch dem katholischen deutschen Minister Matthias Erzberger erklärt: "Ich bin Soldat: wo kein Frieden herrscht, da herrscht Krieg, eine Alternative gibt es nicht." Der Versailler Vertrag sorgt für die Existenz einer solchen Alternative. Indem er den Frieden der Sieger erzwingt, schafft er die Grundlagen dafür, den Krieg mit anderen Mitteln fortzusetzen. Der Versailler Vertrag war nichts anderes als die Fortsetzung des Kriegs mit den Mitteln des Friedens. Der "Frieden ohne Sieg", den der allzu priesterhafte amerikanische Präsident Wilson versprochen hatte, mutierte so zum Sieg ohne Frieden.

Das Jahrhundert endet, wie es begann – auf dem Balkan

Das 20. Jahrhundert begann in Wirklichkeit 1917, einem Jahr, das gezeichnet war von drei grundlegenden Ereignissen: dem Kriegseintritt der USA (die Geburtsstunde des amerikanischen Imperialismus in Europa), der bolschewistischen Revolution (die Geburtsstunde des Sowjetkommunismus) und der Unterzeichnung der Balfour-Deklaration (die Geburtsstunde des Zionismus in Palästina). Zwei Jahre später gab die Unterzeichnung des Versailler Vertrags den Ton an für alles, was danach passieren sollte. In diesem Sinn war dieser Vertrag wahrhaftig die "Matrize" (Georges-Henri Soutou) des Jahrhunderts, das nun zu Ende geht. Der Geist des Versailler Vertrags hat sich im Laufe des 20. Jahrhunderts unaufhörlich verdichtet. Ihm verdanken wir nacheinander die Schaffung des Völkerbundes, die Nürnberger Prozesse, die Entstehung der Vereinten Nationen (UN) und schließlich die Einsetzung eines Internationalen Gerichtshofes.

Die "moralische Politik" Präsident Wilsons legte den Grundstein für die Entwicklung – und letztendliche Zerstörung – des internationalen Rechts im Zeichen der Menschenrechte. Der Briand-Kellogg-Pakt von 1928 erklärte einen Krieg noch für rechtswidrig, wenn er weder defensiven Zwecken diente noch eine Aggression bestrafte. (Auch hier mangelte es im übrigen nicht an Heuchelei, denn Wirtschafts- und Handelskriege fanden keine Erwähnung.) Inzwischen legitimiert das "Recht auf Intervention" den Angriffskrieg aus rein ideologischen und "moralischen" Gründen schon wieder. Krieg ist nicht länger nur im Verteidigungsfall gerechtfertigt.

Das Jahrhundert endet, wie es begann: mit einem Krieg auf dem Balkan, in dem die Verlierer moralisch abqualifiziert werden. Wären sich die Menschen des historischen Moments bewußt, in dem sie leben, dann verstünden sie, daß der Versailler Vertrag nicht der Vergangenheit angehört, sondern stets unsere Gegenwart regiert.

 

Alain de Benoist, Jahrgang 1943, seit 1969 Chefredakteur der Kulturzeitschrift "Nouvelle École". Autor zahlreicher Bücher, auf Deutsch unter anderem "Kulturrevolution von rechts – Gramsci und die Nouvelle Droite" (1986)


Kriegsgewiß

"Seien Sie unbesorgt um Ihre militärische Zukunft! Der Friede, den wir geschlossen haben, sichert Ihnen zehn Jahre voller Konflikte in Europa!"

Georges Clemenceau, französischer Ministerpräsident, am Tag der Unterzeichnung zu französischen Offiziersschülern


 
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