© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    26/99 25. Juni 1999


Als Friedenssehnsucht in Affekte umschlug
Den Westen zum Feind
von Karlheinz Weißmann

Über den Frieden denken wir gut. Die Note Wilsons muß nur richtig betrachtet werden. Amerika ist für uns in den Krieg eingetreten, damit wir von der Militärmacht befreit werden sollen. (…) Es wird höchste Zeit, daß wir Frieden schließen und ein freies Leben führen können. Amerika will nichts von uns; es schließt ja auch mit dem Volk Frieden und nur der Kaiser, Hindenburg und Ludendorff stehen im Wege. (…) Sobald wir die Volksregierung haben, erhalten wir auch einen guten Frieden. (…) Die Arbeiter werden den Krieg gewonnen haben. Für unsere Arbeitskraft erhalten wir überall soviel bezahlt wie vorher, seien wir nun, wo wir wollen. Die Schulden mögen die Junker bezahlen. Warum haben sie die Gelegenheit Frieden zu schließen verpaßt!"

Die Sätze stammen aus dem Brief eines deutschen Soldaten vom 30. Oktober 1918, geschrieben wenige Tage vor dem militärischen Zusammenbruch und veröffentlicht im Dezember 1918 in den Süddeutschen Monatsheften. Es ist schwer zu sagen, inwieweit ein solcher Text typisch für die Stimmung im Herbst 1918 war, aber es spricht viel für diese Einschätzung. Die zeitgenössischen Beobachter haben oft über die eigenartige Atmosphäre dieser Zeit berichtet, gemischt aus Friedenssehnsucht und Zermürbung, Bereitschaft zur Revolte und Hoffnung auf die ganz plötzliche und totale Besserung der Weltzustände.

Große Hoffnung auf den Anbruch einer neuen Zeit

Die in dem Brief erwähnte Note Wilsons datierte vom 23. Oktober 1918. Mit ihr hatte der US-Präsident auf das Waffenstillstandsersuchen der deutschen Regierung unter Hinweis darauf reagiert, daß die Entente nur dann zu einem Abkommen bereit sei, wenn ein Zustand hergestellt werde, der dem Reich die Wiederaufnahme des Kampfes unmöglich mache und wenn die Friedensverhandlungen mit "Vertretern des deutschen Volkes" und nicht mit Repräsentanten der "Autokratie" geführt würden. Die kaiserliche Regierung entsprach den amerikanischen Forderungen durch eine Reihe überstürzter Reformen: der Beseitigung des Drei-Klassen-Wahlrechts in Preußen (26. Oktober) und der Parlamentarisierung des Reiches (28. Oktober). Es folgte der Ausbruch der Marinerevolte (4. November). Das und der Druck der in die Regierung eingetretenen Sozialdemokraten trugen wesentlich zur Abdankung des Kaisers bei, der schließlich die Beseitigung der Monarchie und die Ausrufung der Republik folgten (9. November).

Trotz der tumultuarischen Umstände der "Revolution aus Versehen" (Walther Rathenau) und der drohenden Gefahr einer Radikalisierung, trotz der Härte der Waffenstillstandsvorschriften – Rückzug aus den bis dahin gehaltenen Gebieten in Belgien und Nordfrankreich, Besetzung Elsaß-Lothringens, des Saargebiets, des ganzen linken und einiger Brückenköpfe auf dem rechten Rheinufer durch alliierte Truppen, Räumung einer zehn Kilometer breiten Zone östlich davon, Auslieferung der Flotte, von großen Mengen Kriegsgeräts und von zivilen Verkehrsmitteln –, trotz der Aufrechterhaltung der Seeblockade und trotz des Angriffs irregulärer tschechischer und polnischer Verbände auf die Ostgrenzen, erhielt sich die Hoffnung auf einen "Wilson-Frieden" in der deutschen Bevölkerung bis zum Frühjahr 1919. Viele rechneten nur mit der Abtrennung Elsaß-Lothringens, einiger Gebiete in Nordschleswig und der polnisch besiedelten Teile Posens, Westpreußens und Schlesiens, weiter damit, daß Belgien und Frankreich hohe Schadenersatzforderungen stellen würden, aber sonst glaubte man glimpflich davonzukommen, hatte Wilson doch erklärt, die USA strebten einen Frieden "ohne Sieger und Besiegte" an. Selbst ein Nationalist wie Moeller van den Bruck rechnete damals mit der "Uneigennützigkeit" des amerikanischen Präsidenten und dessen Fähigkeit, "als Schiedsrichter den Weltkrieg zu einem Ende zu bringen", wie er 1919 in seinem Buch " Das Recht der jungen Völker" schrieb.

Seit dem Januar 1919 verhandelten die Alliierten unter Ausschluß des Reiches über die Bedingungen des Friedensvertrags. Die Deutschen lebten währenddessen in der "Traumperiode der Waffenstillstandszeit" (Ernst Troeltsch), einem Interregnum, in dem alles möglich schien: der Anbruch eines neuen Zeitalters mitsamt Erscheinen des Messias, die Verwirklichung der Anarchie und des Menschheitsglücks durch sexuelle Befreiung oder Naturkost, der Sieg der bolschewistischen Revolution oder zumindest der Beginn einer Ära des Weltfriedens und der Demokratie. Nur eine Restauration war wenig wahrscheinlich, das Militär stand – unter Vorbehalt – auf der Seite der neuen Ordnung, um einen weitergehenden Umsturz zu verhindern und die territoriale Integrität zu wahren; die Konservativen hatten seit dem November 1918 "so ziemlich alle Nerven verloren" (Kuno Graf Westarp).

Trotz der Zögerlichkeit der sozialdemokratisch geführten Regierung bei der Wiederherstellung der inneren Ordnung und der Verteidigung des Landes waren die meisten Deutschen mit den neuen Verhältnissen nicht unzufrieden. Das erklärt auch das Ergebnis der Wahl zur Nationalversammlung, bei der die Parteien der gemäßigten Linken und der Mitte, die ohne Vorbehalt für die Republik eintraten, eine breite Mehrheit (67 Prozent der Stimmen für SPD, DDP und Zentrum) gewannen. Schon seit dem Februar 1919 stellte die "Weimarer Koalition" auch die Reichsregierung.

Vieles schien auf eine rasche Normalisierung der Lage hinzudeuten, bis zum Bekanntwerden der von der Entente gestellten Forderungen. Als diese am 7. Mai veröffentlicht wurden, lösten sie – vor allem das Verlangen nach Anerkennung der deutschen Kriegsschuld, die Auslieferung von "Kriegsverbrechern" und der Verlust deutscher Gebiete – eine ungeheure Empörung aus. In einem Aufruf beschwor der Ministerpräsident Philipp Scheidemann die Einheit der Nation in schwerer Stunde und erklärte die Annahme des Vertrages für indiskutabel. In gleichem Sinn sprach er auch vier Tage später vor dem Plenum der Nationalversammlung in Berlin. Entgegen einer Verabredung mit den übrigen Kabinettsmitgliedern, die zur Mäßigung rieten, fielen dabei die berühmten Worte "Welche Hand müßte nicht verdorren, die sich und uns in diese Fessel legt?" Der preußische Ministerpräsident Hirsch, wie Scheidemann Sozialdemokrat, erklärte im Namen aller deutschen Landesregierungen: "Lieber tot, als Sklave."

Schon in den vergangenen Tagen hatten sich zehntausende Menschen im Berliner Lustgarten und vor dem Reichstag versammelt. In den von Abtrennung bedrohten Gebieten und in Danzig, das zur "Freien Stadt" erklärt werden sollte, zogen immer neue Demonstrationszüge durch die Straßen. Alle Parteien protestierten einhellig gegen das "Diktat". Thomas Mann notierte: "Über den Entente-Frieden kein Wort. Er offenbart die Gottgeschlagenheit der Sieger."

Aber die Einheitsfront hielt nicht stand. Rasch scherte ein Teil der Linken aus, allen voran die Vertreter der USPD, die für die Annahme des Vertrages plädierten, nicht zuletzt, weil sie von der deutschen Kriegsschuld überzeugt waren, dann wuchsen in der Reichsregierung Zweifel über den Sinn des Widerstandes. Erzberger, Zentrumsabgeordneter und Staatssekretär ohne Portefeuille, hatte sich früh gegen die harte Verhandlungsführung des deutschen Delegationsleiters Graf Brockdorff-Rantzau gestellt. Er erreichte eine Sondersitzung des Kabinetts unter Teilnahme der preußischen Regierung und des Reichspräsidenten Ebert, bei der er die Folgen der Nichtannahme des Vertrages darlegte. Im Mittelpunkt stand dabei die Behauptung, es folge im Fall der Weigerung die Besetzung des Reichsgebiets durch die Alliierten, es werde zur Separation einzelner Länder, möglicherweise auch zum Militärputsch und Bürgerkrieg kommen; Erzbergers pessimistische Bestandsaufnahme wurde sonst nur von dem Reichswehrminister Noske geteilt, dessen Begründung für die Annahme des Vertrages allerdings einen deutlich anderen Akzent trug. Angesichts der Schwierigkeiten, die er beim Versuch, die Landesverteidigung sicherzustellen, erlebt hatte, war er zu der bitteren Einsicht gekommen: "Unser Volk ist national so verlumpt, daß wir unterzeichnen müssen."

Am 17. Juni legte Hindenburg in seiner Funktion als Chef der Obersten Heeresleitung dar, daß man im Osten die Provinz Posen zurückgewinnen und die Grenzen halten könne, im Westen allerdings sei die Abwehr eines Angriffs der Alliierten aussichtslos. Er zweifle am Erfolg der Aktion insgesamt, aber er müsse "als Soldat den ehrenvollen Untergang einem schmählichen Frieden vorziehen". Diese Haltung wurde von den meisten aktiven militärischen Führern abgelehnt, nur wenige von ihnen, wie etwa der preußische Kriegsminister General Reinhardt, waren bereit, die Reichseinheit zu riskieren, um dann von preußischem Gebiet aus die levée en masse zu organisieren; darin wurde Reinhardt allerdings von dem sozialdemokratischen Reichskommissar für Ost- und Westpreußen, August Winnig, unterstützt, der schon mit Vorbereitungen für den Volkskrieg begann.

Zuletzt setzten sich in der politischen Führung diejenigen durch, die für die Annahme gesprochen hatten. Sie erfolgte am 23. Juni, nach dem Rücktritt Scheidemanns und letzten vergeblichen Bemühungen der deutschen Delegation, eine Milderung der größten Härten des Vertrages zu erreichen. Das unter Gustav Bauer neu gebildete Kabinett bestand nur noch aus SPD und Zentrum. Die Demokraten waren vorher aus der Koalition ausgeschieden und enthielten sich bei der Abstimmung der Nationalversammlung der Stimme; zur Begründung ihres Verhaltens erklärten sie, es hätten sich erträglichere Friedensbedingungen erreichen lassen, wenn es gelungen wäre, die Geschlossenheit im Inneren zu wahren. Am 28. Juni 1919 unterzeichneten die Reichsminister Bell und Müller im Spiegelsaal von Versailles den Vertrag.

Es ist heute üblich, die faktische und psychologische Bedeutung von "Versailles" für das Schicksal der Weimarer Republik herunterzuspielen. Den Zeitgenossen war nicht zweifelhaft, daß der "Mordplan" (Philipp Scheidemann) die größte Hypothek für den neuen Staat sein würde. Denn die Parteien blieben sich wohl einig in ihrer Ablehnung des "Schandfriedens", aber es trennte sie die Einschätzung, auf welchem Wege man ihn abschütteln könne. Wie der andere "Versailler Vertrag", der 1871 zwischen dem siegreichen Deutschland und dem geschlagenen Frankreich geschlossen worden war, erzeugte er einen Nationalismus, der revanchistisch war, weil die Demütigung der Nation tatsächlich auch als Demütigung des einzelnen erlebt wurde, und der antirepublikanisch war, weil die Republik so unfähig wirkte, das Vaterland zu verteidigen: "Wenn die Leute von Weimar unsere Interessen würdig vertreten hätten, wären wir mit ihnen gegangen", hat Ernst Jünger 1978 in einem Gespräch gesagt. Man mag das für eine Ex-post-Erklärung halten, aber sie besitzt durchaus Plausibilität.

Tiefe Verachtung für die Doppelzüngigkeit

Die Nationalisten, die schon bei Kriegsende den "deutschen Träumer" (Paul Nikolaus Cossmann) vor jedem Glauben an die Versprechen der Siegermächte gewarnt hatten, durften sich im Recht fühlen, wer aber 1918 bereit gewesen war, nicht nur die militärische, sondern auch die moralische Überlegenheit der Gegenseite anzuerkennen, mußte sich getäuscht sehen; die Verachtung für die Doppelzüngigkeit der Entente, die behauptet hatte, im Namen der "Zivilisation" die "Barbarei" bekämpft zu haben, war der stärkste Impuls für den "antiwestlichen Affekt" in der Masse der Bevölkerung wie unter den Gebildeten, und schon am Beginn der zwanziger Jahre zeigte sich der grundlegende Wandel der politischen Atmosphäre und war zu ahnen, welches Potential in der Mobilisierung einer Nation liegen konnte, die sich nicht nur besiegt, sondern auch betrogen fühlte.

Über eine Massenversammlung der NSDAP nach der Bekanntgabe der Höhe der Reparationsforderungen durch das "Londoner Protokoll" schrieb ein Teilnehmer: Hitler "beherrschte die vieltausendköpfige Menge vollständig, obwohl er ganz ruhig und ohne Gesten sprach und ohne unmittelbare Aufstachelung der Leidenschaften. Es war mir höchst merkwürdig, wie dieselben Bevölkerungsteile (kleine Leute, Handlungsgehilfen, Arbeiter, kleinere und mittlere Beamte, kleine und mittlere Geschäftsleute usw.), welche vor ein bis eineinhalb Jahren ganz und gar von demokratischen Träumen und Wünschen erfüllt waren, jetzt wieder nationalbegeistert waren, ’Deutschland, Deutschland über alles‘ sangen".

 

Dr. Karlheinz Weißmann, Jahrgang 1959, Gymnasiallehrer für Geschichte und Religion in Göttingen, Autor u. a. von "Rückruf in die Geschichte" (1992), "Der Weg in den Abgrund – Deutschland unter Hitler 1933-45" (1995) und "Der Nationale Sozialismus – Ideologie und Bewegung 1890 – 1933" (1998)


 
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