© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    26/99 25. Juni 1999


Sprachen: Russisch sollte bundesweit gymnasiales Wahlfach werden
Osterweiterung ernst nehmen
René Sotier

Englisch beherrscht die Welten der Technik, Wirtschaft, Wissenschaft und globalen Kommunikation. Als wichtigste Sprache ist es Bestandteil der Lehrpläne aller Schulzweige. Gymnasiale Lehrpläne sorgen für eine angemessene Verbreitung von Französisch, der westeuropäischen Sprache. Flankiert durch Wahlfachangebote wird der Bedeutung europäischer Sprachen (Französisch, Italienisch, Spanisch u. a.) in unserem zusammenwachsenden Europa Rechnung getragen.

So weit, so gut. So gut, so wenig perfekt. So gut, weil das Gewicht genannter Sprachen zutreffend in bildungspolitische Praxis transferiert wurde. So wenig perfekt, weil der Lehrplan, zumindest indirekt, auch eine Art diplomatische Attitüde beinhaltet. Die quantitative und qualitative Verortung im Lehrplan offenbart die Wichtigkeitsstufung des Staates, um dessen Landessprache es sich handelt, ebenso wie den Grad an gewünschtem Kommunikationsaufkommen mit dem Volk des jeweiligen Wirtschafts-, Wissenschafts- und Kulturkreises. Aus diesem Blickwinkel gibt es an bildungspolitischer Sprachverbreitungssteuerung zwar keinerlei Beschränkungsbedarf. Allerdings indiziert die gegenwärtige Entwicklung Ergänzungsbedarf. Die EU wurde und wird in Richtung Osteuropa erweitert. Rußland ermöglichte maßgeblich die Wiedervereinigung Deutschlands, dies trotz exorbitanter Verluste im Zweiten Weltkrieg. Der Kalte Krieg, der Kommunismus und der Warschauer Pakt sind längst Geschichte. Mannigfaltige Kooperationen und gute diplomatische Beziehungen prägen das deutsch-russische Verhältnis. Höchste Zeit also, der bevölkerungs- und rohstoffreichen russischen Kultur-Nation auf dem größten Teil der eurasischen Landmasse, der Nuklearmacht Rußland, den gebotenen Dank und Respekt zu zollen.

Es sollte daher – über wenige "Exoten-Gymnasien" hinausgehend – ein gymnasiales Wahlfach Russisch bundesweit eingeführt werden. Ziel: Schaffung eines Kontingents von zehn bis fünfzehn Prozent Nachwuchsakademikern, die Grundkenntnisse russischer Geschichte, russischen Denkens und Fühlens aufwiesen. Dies freilich kumulativ zu fortbestehenden Englisch- und Französischkontingenten. Nur so kann Deutschland seiner Aufgabe gerecht werden, die ihm kraft geographischer Lage, wirtschaftlicher und politischer Leistungsfähigkeit zukünftig zukommen wird. Um es mit der Begrifflichkeit des Washingtoner Politikwissenschaftlers Gerald Livingston zu formulieren: Das moderne Deutschland als Drehscheibe zwischen Ost und West. Als humanistischer und diplomatischer (Ver-)Mittler westlichen Wertedenkens!


 
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