© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    26/99 25. Juni 1999


Ausstellung: Der Maler J.S. Chardin in der Karlsruher Kunsthalle
Bilder von zeitloser Stille
Frank Philip

Der Schriftsteller Denis Diderot, der wortgewaltigste Kunstkritiker des 18. Jahrhunderts, notierte anläßlich des "Salon" von 1863: "Oh Chardin! Es ist nicht das Weiß, das Rot, das Schwarz, das du auf der Palette zerreibst, es sind die Dinge selbst in ihrer Wesenhaftigkeit, es ist die Luft und das Licht, die du auf der Spitze deines Pinsels auf die Leinwand bannst." Der mit solch schwärmerischem Lob bedachte Jean-Baptiste Siméon Chardin befand sich auf der Höhe seines Ruhms.

Auf der "Exposition de la jeunesse" hatte er 1728 erstmals mit Erfolg ausgestellt und war daraufhin als "Fachmaler von Tieren und Früchten"in die Pariser Académie Royale aufgenommen worden. Die Klassifizierung als Maler "besonderer Gattung" war jedoch keine besondere Auszeichnung, stellte im Gegenteil eine Hürde für seinen Aufstieg dar. Denn die "natures mortes" waren bei der Akademie nur mäßig angesehen, während Historien, also Darstellungen mythologischen oder religiösen Inhalts, in der damaligen Wertschätzung ganz oben rangierten. Trotzdem erfreuten sich die Tierstilleben, Früchte- und Blumenarragements einer immer steigenden Beliebtheit bei den Sammlern. Die Stofflichkeit der Objekte, die Sparsamkeit der Anordnung, und die stimmungsvolle Beleuchtung machten Chardins Bilder schnell bekannt. Ab 1735 wandte er sich auch Szenen des häuslichen Lebens zu. Sie schildern den Alltag der kleinen Bürger; häufig bevölkern Dienstmägde, Angestellte oder Kinder die bestechend klaren Kompositionen. Es ist wohl die Stille, die ruhige, konzentrierte Atmosphäre dieser unspektakulären Bilder, die auch Ludwig XV. überzeugte. 1757 gab er dem Maler eine Wohnung im Louvre, übertrug ihm kurz darauf offiziell die Aufgabe, die Bilder im "Salon" zu hängen.

Die Kunsthalle Karlsruhe zeigt nun zum 300. Geburtstag Chardins eine umfassende Werkschau mit über dreißig Ölgemälden, angereichert um achtzig Bilder anderer Künstler. Dazu kommen mehr als hundert Graphiken aus der Zeit, zumeist Reproduktionen populärer Motive Chardins und anderer berühmter Franzosen des 18. Jahrhunderts wie Boucher, Lancret, Fragonard oder Greuze. Getreu dem Motto der Ausstellung "Werk, Herkunft, Wirkung" werden die Werke Chardins seinen vorwiegend holländischen Vorbildern des 16. Jahrhunderts gegenübergestellt. Sicherlich haben die Genremeister David Teniers d.J., Jan Steen und Gerrit Dou wichtige Impulse gegeben, besonders in der Komposition lassen sich Gemeinsamkeiten entdecken. Auch Chardins Stilleben wären ohne die Vorarbeit der Niederländer undenkbar, doch der direkte Vergleich zeigt die Verschiedenheit. Die Meister des Goldenen Zeitalters modellieren mit technischer Raffinesse kostbare Silbergefäße und zierliche Gläser, chinesisches Porzellan, seltene Muscheln und Südfrüchte. Das Silber glänzt, die Vase schimmert und der Fruchtsaft tropft. Die verschwenderische Fülle erzählt von den Annehmlichkeiten des Reichtums ebenso wie der Vergänglichkeit alles Irdischen, in jedem Fall reizt sie die Sinne des Betrachters. Bei Chardin dagegen liegt in einer Nische ein kleiner Korb, darin ein paar Äpfel oder Birnen mit reichlich Druckstellen. Dahinter eine Metallkanne, manchmal ein Glas Wasser. Das ist keine festlich gedeckte Tafel, eher eine Ecke in der Küche, wo gerade ein einfaches Mal bereitet wird. Chardin führt dem Betrachter das Elementare, das Lebensnotwendige vor Augen. Er beschränkt sich auf das Wenige, alles in magisch-erdigem Kolorit mit kurzen harten Pinselstrichen. Seine Bilder strahlen Ruhe, fast meditative Gelassenheit aus. Ähnlich bei den Genreszenen: Die Bewegungen sind angehalten, die Akteure wirken gefaßt; alles konzentriert sich auf den Augenblick. Chardins häusliche Szenen haben nichts von der überzüchteten Eleganz seiner französischen Kollegen. Sie sind auch weit entfernt von den lustigen Poltereien eines Jan Steen oder David Teniers. Die beiden Extreme, die Pracht der Niederländer und die Schlichtheit Chardins mit den Vokabeln "Schein" und "Sein" zu belegen, ist verlockend doch ungerecht. Es verkennt die moralisierende Intention der Erstgenannten, unter deren Realismus sich in Wahrheit ein frommer Symbolismus verbirgt. Einen wertenden Vergleich zwischen Chardin vermeidet, wer sich an Diderots berühmten Satz erinnert: "Der Unterschied zwischen dem Wert der Technik und dem Wert des Ideellen ist der Unterschied zwischen dem, was die Augen, und dem, was die Seele gefangennimmt."

Um 1770 erkrankte Chardin an einem Augenleiden. Er gab die Ölmalerei auf und mußte sich schließlich von seinem Amt als Schatzmeister der Akademie verabschieden. Die vielen Stiche und Radierungen nach seinen Vorlagen beweisen seine Reputation, und die europäischen Höfe bemühten sich um Bilder seiner Hand. Auch die badische Markgräfin Karoline Luise, deren Sammlung den Grundstock zur Karlsruher Kunsthalle legte, erwarb vier Stilleben. Doch Chardins Tod 1779 fand kaum ein öffentliches Echo. Seine Kunst entsprach nicht mehr dem gewandelten Geschmack der Zeit, der sich an der kühlen Glätte des Klassizismus orientierte. Erst zu Ende des letzten Jahrhunderts entdeckten die Impressionisten wieder seine Modernität. Hätte sich unter die späten Bilder von Chardin ein kleines Stilleben von Courbet oder Cezanne geschmuggelt, einige Besucher hätten es wohl nicht bemerkt.


 
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