© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    25/99 18. Juni 1999


Demontage: Vor 80 Jahren wurde der Versailler Vertrag unterzeichnet
Der verhängnisvolle Frieden
Alfred Schickel

Vor 80 Jahren, am 28. Juni 1919, wurde der Friedensvertrag von Versailles unterzeichnet. Unter den Blicken von rund tausend Zuschauern setzten die Vertreter der 27 "Alliierten und assoziierten Mächte", wie sich die Kriegsgegner Deutschlands nannten, und die beiden Bevollmächtigten der deutschen Reichsregierung im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles ihre Unterschriften unter das 440 Artikel umfassende Vertragswerk. Für das Deutsche Reich unterschrieben die Minister Hermann Müller Franken (SPD) und Johannes Bell (Zentrum). Abgesehen von einigen geringfügigen Änderungen waren ihre Unterschriften der einzige Beitrag, den die deutsche Seite zum Friedensvertrag beisteuern durfte.

Entgegen den allgemeinen Erwartungen und völkerrechtlichen Gepflogenheiten hatten die Siegermächte keinen Vertreter Deutschlands eingeladen, als sie sich am 18. Januar 1919 zur Eröffnung der Friedenskonferenz in Versailles versammelten, sondern gedachten die dem Deutschen Reich aufzuerlegenden Friedensbedingungen unter sich auszuhandeln. Die schon vor der Konferenz deutlich gewordenen Meinungsverschiedenheiten zwischen den Hauptsiegermächten USA, Großbritannien, Frankreich und Italien ließen es besonders ihrem Gastgeber, dem französischen Ministerpräsidenten Georges Clemenceau, angezeigt erscheinen, die unterschiedlichen Vorstellungen von einer künftigen Friedensordnung in Europa und in der Welt ohne deutsche Einreden auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen.

Den Vorsitz führte der französische Ministerpräsident, der als "Père de la Victoire" (’Vater des Sieges‘) fest entschlossen war, die durch die deutsche Niederlage entstandene Chance für sein Land und dessen Sicherheit vollauf zu nutzen. Sein Hauptkontrahent war der amerikanische Präsident Wilson, der sich den Zersplitterungsplänen Clemenceaus erfolgreich widersetzte und für die Verwirklichung seiner bekannten "Vierzehn Punkte" vom 8. Januar 1918 eintrat. Aus ihnen ging dann auch der Volkerbund, die Vorgängerorganisation der heutigen UNO, hervor. Um so schmerzlicher für Wilson, daß der amerikanische Senat dann später den Beitritt der USA zum Völkerbund ablehnte. Clemenceau charakterisierte seinen amerikanischen Gegenspieler einmal treffend als den "stürmischen Propheten einer neuen Formel, die metaphysisch makellos ist, deren Forderungen sich die Völker in ihrem gegenwärtigen Geisteszustand aber kaum anpassen werden".

Realistischere Ziele und Interessen verfolgte der britische Premierminister David Lloyd George. Er traf sich mit seinem französischen Kollegen in dem Bestreben, Deutschland als Welt- und Kolonialmacht auszuschalten. Im Sinne der traditionellen britischen "Politik des europäischen Gleichgewichts" suchte er jedoch das besiegte Deutschland als lebensfähiges Glied des kontinentalen Staatensystems und als künftigen Handelspartner zu erhalten.

27 Feindstaaten erheben Anspruch auf Reparationen

Mit ganz bestimmten Vorstellungen über den Anteil seines Landes an den Früchten des Sieges kam auch der italienische Ministerpräsident Vittorio Orlando nach Paris. Er rechnete mit Landgewinnen im Norden, Nordosten – Fiume –, im Mittelmeer und in Afrika. Als er jedoch nicht alle territorialen Forderungen durchsetzten konnte, verließ er zeitweise aus Protest die Koferenz. Zusammen mit Clemenceau, Wilson und Lloyd George stellte er die "Großen Vier", welche zwischen Januar und Mai 1919 im wesentlichen die künftige Friedensordnung in den Verträgen mit Deutschland, Österreich, Ungarn, Bulgarien und der Türkei festlegten.

Die übrigen 23 Siegerstaaten ("assoziierten Mächte") wie die CSR, Polen, Rumänien oder Belgien hatten sich darauf zu beschränken, ihre Wünsche vorzutragen und in Sachverständigenausschüssen bei bestimmten Fragen mitzuarbeiten. Unter ihnen taten sich besonders Polen und die neu gegründete "Tschechoslowakische Republik" sowie das gleichfalls neu entstandene Jugoslawien mit unmäßigen Landansprüchen an Deutschland, Österreich und Ungarn hervor, so daß der britische Premier Lloyd George fürchtete, daß es bei einer Erfüllung der vorgetragenen Wünsche "in Osteuropa früher oder später zu einem neuen Kriege kommen" würde.

Clemenceau stellte die Bedenken seines Londoner Kollegen hinter sein Bestreben, mit Polen, der CSR und Jugosalwien ein Bündnissystem gegen Deutschland, die sogenannte Kleine Entente zu begründen, um auf diese Weise das mit der Revolution Lenins weggefallene Rußland als Bundesgenossen im Osten zu ersetzen. In derselben Absicht gestattete er auch den Sudetendeutschen nicht den von ihnen einmütig gewünschten Zusammenschluß mit Österreich, sondern ließ die rund 3,5 Millionen Deutschböhmen und Deutschmährer der Tschechoslowakei zuschlagen, und verhinderte zugleich den von den Österreichern geforderten Anschluß ihres Landes an Deutschland. "Schließlich haben wir nicht in einem blutigen vierjährigen Krieg die Mittelmächte niedergerungen, um danach ein Großdeutsches Reich entstehen zu lassen", war seine Begründung für diesen mehrfachen Bruch des Selbstbestimmungsrechtes der Deutschen im Reich, der CSR, in Österreich und in Südtirol.

Auf die wiederholten Warnungen Wilsons, Deutschland nicht zu sehr zu schwächen und mit Österreich nicht zu rigoros zu verfahren, antwortete Clemenceau, der im Laufe der Konferenz den zusätzlichen Spitznamen "La Tigre" (’der Tiger‘) erhielt, mit der Bemerkung: "Amerika ist fern, geschützt durch den Ozean. Amerika hat die Schrecken dieses Krieges während der ersten drei Jahre nicht am eigenen Leibe erlebt, wir dagegen haben in dieser Zeit eineinhalb Millionen Menschen verloren."

Ein Vorhalt, der Wilson in der Folgezeit immer mehr verstummen und Clemenceau zum eigentlichen "Friedensmacher von Versailles" werden ließ. Auf seine Forderungen hin wurde Deutschland um ein Fünftel verkleinert, hatte sich mit einen Berufsheer von 100.000 Mann abzufinden, auf schwere und moderne Waffen zu verzichten, die Rheinlandzone zu entmilitarisieren, über 130 Milliarden Goldmark Kriegsentschädigungen zu zahlen und die Alleinschuld am Krieg auf sich zu nehmen.

In der Wegnahme der Kolonien, der Auslieferung der deutschen Flotte und dem Einzug der deutschen Vermögenswerte im Ausland waren sich die "Großen Vier" ebenso einig wie sie es auch für richtig hielten, die Satzung des von ihnen gegründeten Völkerbundes zwar in den Friedensvertrag mit Deutschland aufzunehmen, das Deutsche Reich aber vorläufig aus diesem Bund auszuschließen und es durch die Rheinlandbesetzung sowie die Internationalisierung der deutschen Flüsse in seiner Souveränität zu beschränken. Das Ansinnen, über 900 deutsche Persönlichkeiten, von Generalfeldmarschall von Hindenburg bis Kronprinz Rupprecht von Bayern, als sogenannte Kriegsverbrecher auszuliefern und vor Gericht stellen zu lassen, verletzte vollends das deutsche Selbstwertgefühl und machte den Versailler Friedensvertrag zum "härtesten Diktat seiner Zeit", wie ein amerikanischer Diplomat freimütig bekundet, aus dem sich in der Folgezeit bis 1933 und 1939 das verhängnisvollste Dokument des Jahrhunderts entwickelte.

Deutschland erhält die Rolle des "ewigen Zahlmeisters"

Dabei erwies sich die Überbetonung und ausschließlich moralisch aufgefaßte Deutung des Artikels 231, des sogenannten Kriegsschuldparagraphen, als ebenso folgenschwer wie die Unterschätzung des im Artikel 232 des Vertrages von den Siegermächten ausgedrückten Verständnisses für die finanzielle und wirtschaftliche Lage Deutschlands. Immerhin erkannten darin die "alliierten und assoziierten Regierungen" an, "daß die Hilfsmittel Deutschlands unter Berücksichtigung ihrer dauernden, sich aus den übrigen Bestimmungen des Vertrages ergebenden Verminderung nicht ausreichen, um die volle Wiedergutmachung aller dieser Verluste und Schäden sicherzustellen".

Das bedeutete, daß die Versailler Friedensmacher bei der Erfüllung ihrer angemeldeten Reparationsforderungen ein etwaiges Entgegenkommen nicht von vornherein ausschlossen. Sie bestanden zunächst nur darauf, "während der Jahre 1919, 1920 und der ersten Monate von 1921 den Gegenwert von zwanzig Millionen Mark Gold" zu erhalten, um den vom Krieg heimgesuchten Siegerstaaten Frankreich und Belgien "schon jetzt die Wiederaufrichtung ihres gewerblichen und wirtschaftlichen Lebens zu ermöglichen", wie es im Artikel 234 hieß.

Damit hätte das Deutsche Reich ein knappes Sechstel seiner Gesamtreparationen entrichtet und einen ersten wichtigen Beitrag zur Wiedergutmachung geleistet. Darüber hinaus wurde Deutschland noch auferlegt, bis zum Mai 1926 Belgien alle Summen zu erstatten, welche dieses "von den alliierten und assoziierten Mächten bis zum 11. November 1918 entliehen hat". Eine Verpflichtung, um von Brüssel den Durchmarsch durch das Land nach Frankreich zugestanden zu erhalten. Lediglich die fünfprozentige Verzinsung war eine Festlegung der alliierten Siegermächte. Sie erschien jedoch auch noch erträglich, wenn die Wirtschaftslage im Reich stabil blieb und die Sieger sich als verständnisvolle Gläubiger erwiesen.

Beide Voraussetzungen gerieten im Winter 1922/23 ins Wanken, als sich im Reich eine Wirtschaftskrise abzeichnete, Berlin in Zahlungsrückstand kam und Franzosen und Belgier die fälligen Summen durch die Besetzung des Ruhrgebietes als "produktive Pfänder" erzwangen. Dieser "Ruhreinmarsch" am 9./ 10. Januar 1923 leitete nicht nur das bisher schwerste Katastrophenjahr der Weimarer Republik ein, sondern erweckte auch die alten Feindbilder wieder zum Leben. Passiver Widerstand der deutschen Bevölkerung und standrechtliche Erschießung durch die französisch-belgischen Okkupanten vergifteten das gegenseitige Verhältnis und ließen einen Adolf Hitler in München erstmals nach der Macht im Reich greifen.

Wenn auch das Unternehmen Hitlers ihn vorerst auf die Festung Landsberg führte und Reichskanzler Stresemann das Reich aus seiner tiefsten Krise retten konnte, waren die Ereignisse um den deutschen Zahlungsrückstand auf Dauer nicht ohne Folgen geblieben und hatten auf dem Wege über US-amerikanische Kredite die deutsche Wirtschaft in Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten und deren wirtschaftliche Entwicklung gebracht, was sich 1929 nach dem New Yorker Börsensturz als überaus verhängnisvoll erweisen und den schlußendlichen Untergang der Weimarer Republik einleiten sollte.

Über diesen Ereignissen und Verbitterungen wurde in Deutschland eine Deutung des "Kriegsschuldparagraphen" übersehen, die der italienische Ministerpräsident gegeben hatte, als er den Artikel 231 nicht als "moralische Wertung", sondern als "juristische Grundlage für die Reparationsforderungen" auslegte, wie sie jedes normale Gericht bei Schadensersatzforderungen setze, um darauf Höhe und Ausmaß der Wiedergutmachung zu gründen.

In der Tat nahmen sich die Formulierungen der einschlägigen "Wiedergutmachungs-Artikel" des Versailler Vertrages sätzeweise wie Auszüge aus Gerichtsurteilen aus. Da ist von "Schadensersatzansprüchen" die Rede, gegen welche der "deutschen Regierung nach Billigkeit Gehör zu gewähren" ist, und da wird ein "Wiedergutmachungsausschuß" vorgestellt, dem auffällige Kompetenzen wie Fristverlängerungen und Leistungsprüfungen eingeräumt werden.

Die verständliche Empörung über die hundertprozentige Schuldzuweisung an Deutschland und seine Verbündeten ließ jedoch diesen juristischen Aspekt des "Kriegsschuldparagraphen" fast vollständig in den Hintergrund treten.

Dies um so mehr, als es bisher in den abendländischen Vertrags- und Diplomatiegeschichte überlieferter Brauch war, in einem Friedensvertrag keine Aussage über den Schuldanteil am beendeten Kriege zu treffen. Vielmehr galt der alte Grundsatz, daß nach Beendigung der Kampfhandlungen "alles vergeben und alles vergessen" sei (’tout pardonner et tout oublier’), um eine Fortsetzung des Krieges "in den Herzen und Hirnen" zu vermeiden.

Im Gegensatz zu dieser Tradition schrieben die Friedensmacher von Versailles schon vor dem Artikel 231 in die Präambel des Vertrages ihre Version über die Ursachen des Krieges, in den sie angeblich "nacheinander unmittelbar oder mittelbar verwickelt worden sind und der in der Kriegserklärung Österreich-Ungarn an Serbien vom 28. Juli 1914, in den Kriegserklärungen Deutschlands an Rußland von 1. August 1914 und an Frankreich vom 3. August 1914 sowie in dem Einfall in Belgien seinen Ursprung hat".

Was den angeführten Daten als ursächliche Gründe und Ereignisse vorangegangen ist und von der jahrzehntealten Revanche-Bereitschaft Frankreichs bis zum Attentat von Sarajewo reicht, blieb außer Betracht, da es die parteiische Pauschalisierung in Schuldige und Unschuldige in Frage gestellt – und zugleich die alliierten Wiedergutmachungsansprüche entsprechend gemindert hätte. Und davor standen wiederum die materiellen Interessen der Sieger.

Im übrigen sagt man Hitler nach, daß er aus der Praxis der Sieger von 1918, die Kriegsschuld mit den abgegebenen Kriegserklärungen zu begründen, die Konsequenz gezogen habe, möglichst jede förmliche Kriegserklärung zu vermeiden und statt dieser zu verkünden, daß "zurückgeschossen" oder der "militärische Schutz des Landes" (etwa Dänemarks) übernommen werde. So wirkte sich der am 28. Juni 1919 unterzeichnete Versailler Vertrag auch noch über 20 Jahre später verhängnisvoll auf das Schicksal der europäischen Völker aus und disqualifizierte zum abschreckenden Beispiel eines Friedensvertrages.

Korrekturen erst nach dem Fall des Eisernen Vorhangs

Damit nicht genug: 1945 mußten Millionen Deutsche die ungerechten Grenzfestlegungen von Versailles mit dem Verlust ihrer Heimat bezahlen, weil sie 1919 das ihnen 1918 versprochene Selbstbestimmungsrecht einforderten und man nach dem Zweiten Weltkrieg ungeniert an den Ost- und Sudetendeutschen "ethnische Säuberungen" praktizierte.

Schließlich liquidierte Slowaken, Kroaten, Bosnier und Slowenen im letzten Jahrzehnt des ausgehenden 20. Jahrhunderts die problematischsten zwei Staatsschöpfungen von 1919 und löschten die "Tschecho-Slowakische Republik" sowie das einst bis Kärnten heranreichende "Jugoslawien" von der europäischen Landkarte – freilich nicht ohne große Opfer an Gut und Blut. Bittere Fernwirkungen eines mißratenen Friedensschlusses vor 80 Jahren.

 

Dr. Alfred Schickel ist Leiter der Zeitgeschichtlichen Forschungsstelle Ingolstadt (ZFI).


 
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