© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    25/99 18. Juni 1999


Besuch in London: Gespräche über Churchill, Monica Lewinsky, Prinzessin Diana und die EU
Christus starb für Hounslow
Baal Müller

Schwarze Zylinder, Spazierstöcke mit Silberknauf und dergleichen sieht man auch in London heute nur noch auf dem Flohmarkt (dort allerdings in stattlicher Anzahl); man kleidet sich durchaus wie überall mit Anzug und Krawatte oder auch, wenn man jung und weiblich ist, mit kurzem T-Shirt und Ring im Bauchnabel. Etwas traditioneller als auf dem Kontinent sind vielleicht die von den Herren bevorzugten weißen Hemden, während bei uns die business class bekanntlich eine Vorliebe für hellblaue Hemden und gelbe Krawatten hat; auch begegnen einem in London weniger Jugendliche mit Baseballkappen und Hosen, deren Gesäßtaschen sich auf Kniekehlen- oder Wadenhöhe befinden.

Statt Döner ißt man natürlich Fish and Chips, holt sich etwas vom Chinese Takeaway oder geht in einen indischen Laden, der etwa Halal Meat oder so ähnlich heißen könnte. Inder sind überhaupt unglaublich zahlreich in London, einige Stadtteile, zum Beispiel Hounslow, wo ich einige Tage bei indischen Freunden verbrachte, erscheinen geradezu als ein Little Bombay.

In Hounslow haben die Sikhs auch einen eigenen, sehr großen Tempel, der allerdings mit vergleichbarer Architektur in Indien wohl nicht konkurrieren kann: er sieht ein wenig aus wie ein riesiges Parkhaus – allerdings nicht wie bei uns schmutziggrau, sondern immerhin aus rotem Backstein –, das mit einigen dünnen Türmchen verziert wurde.

Die Kombination des Nützlichen und Billigen mit ethnischen Versatzstücken ist allerdings auch bei uns allgemein beliebt; man denke nur an die griechischen Tavernen in Fachwerkhäusern, die durch allerlei Säulen, Aphroditen, Tritonen und blau-weiße Tischdecken ein wenig hellenisiert werden, oder an die bunten chinesischen Restaurants mit ihren goldenen Drachen, Löwen, Buddhas in sonst recht faden Allzweckbetonbauten.

Um aber auf London und seinen etwas ärmlichen Stadtteil Hounslow zurückzukommen und um nicht allein über die Sikhs zu spotten, sei bemerkt, daß deren Tempel die dortigen, sehr schlichten und dürftigen christlichen Kirchen noch bei weitem in den Schatten stellt; erwähnenswert ist hier allenfalls ein an einer dieser Kirchen befestigtes Transparent mit der Erinnerung, daß Christus auch für Hounslow gestorben sei. Ob es diesem gottverlassenen Vorort viel genutzt hat, ist fraglich.

Weitaus mehr gelohnt, jedenfalls in ästhetischer Hinsicht, hat sich Christi Kreuzigungstod allerdings im Falle der St.-Paul’s Cathedral, der nach dem Petersdom zweitgrößten Kirche der Christenheit. Anstatt nun aber die Big Bens, Houses of Parliaments, Buckingham Palaces, Towers usw. aufzuzählen oder mit Doppeldeckerbussen, Cricket, Schuluniformen, Lady-Di-Gedenkmünzen, Pfefferminzsoßen, Milchschüssen in Teetassen (klingt etwas merkwürdig, soll aber der Plural sein von: ein Schuß Milch) zu langweilen, wollen wir uns auf unserer kleinen Suche nach dem typisch Britischen in das Haus eines älteren Herrn begeben, der dieses als eine seltene Spezies noch besonders rein zu verkörpern scheint: Es handelt sich um den Ägyptologen, Archäologen, Musiker und Musikwissenschaftler Robert Anderson. Er war zeitweise Präsident der British Exploration Society, hat Grabungen in Ägypten geleitet und dabei wichtige Papyrusfunde gemacht; er ist Verfasser verschiedener Bücher u.a. über Edward Elgar und Richard Wagner und hat außerdem auch in der Royal Albert Hall dirigiert.

Ich hatte Glück, ihn während meines kurzen Aufenthaltes in London überhaupt anzutreffen, denn er ist viel auf Reisen – meist in Ägypten, Rußland oder Indien –, und ich hatte mich erst kurz vorher telefonisch angemeldet. Pünktlich um 5 Uhr stand ich vor der Tür seines viktorianischen Hauses. Es war mein zweiter Besuch bei ihm; das erste Mal hatte ich ihn vor sechs Jahren besucht, nachdem wir einige Monate zuvor zufällig in Heidelberg vor einem der zahlreichen Antiquariate in ein Gespräch gekommen waren, aus dem sich dann eine Art Brieffreundschaft entwickelt hat.

Ich war etwas aufgeregt, ihn wiederzusehen, zumal der Kontakt in der letzten Zeit etwas nachgelassen hatte; er empfing mich jedoch in seiner altertümlich eingerichteten Wohnung so als ob wir uns vorige Woche erst verabschiedet hätten. Er hatte sich kaum verändert und sah mit seinem langen, schmalen Gesicht und seinem Cordjackett sehr englisch aus. Kurz darauf saßen wir bei Tee (mit einem Schuß Milch selbstverständlich), Gebäck und Sherry und plauderten über verschiedene, zumeist englische Themen: Churchill, den er für den letzten großen britischen Politiker hält, Monica Lewinsky und Prinzessin Diana, deren Tod er als einen himmlischen Segen betrachtet, während er Prinz Charles immerhin zugesteht, "auf seine Weise" intelligent zu sein.

Am besten kommt bei ihm die Queen weg: "I hope she will live forever!", was er Tony Blair hingegen nicht unbedingt wünscht. Es versteht sich von selbst, daß er von Euro und "Euroland" äußerst wenig hält und die "French ideas" eines geeinten Europas geradezu verflucht – sehr im Gegensatz zum Commonwealth, auf welches sich Großbritannien wieder zu besinnen hätte, anstatt den derzeitigen Schmusekurs mit der EU fortzusetzen.

Ebenso schmerzt ihn der Niedergang der Britischen Großmacht, die um die Jahrhundertwende das größte Weltreich der Geschichte gewesen sei und noch in den ersten Jahren des zweiten Weltkriegs die führende Rolle unter den Alliierten besessen habe, während Großbritannien heute wenig mehr als ein Vasall der Vereinigten Staaten sei.

Angesichts solcher konservativ-britischen Überzeugungen verwundert es, daß er ausgerechnet zu jener Handvoll Engländer zählte, die an der Europawahl teilgenommen haben. Immerhin: er wählte die eurokritische British Independence Party.


 
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