© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    25/99 18. Juni 1999


Pankraz,
Doktor Schiwago und die Kinder des Funktionärs

Bürgerkrieg in Westfalen. Ein Münsteraner Arzt hat die medizinische Behandlung zweier Kinder abgelehnt, weil deren Vater NPD-Kreisvorsitzender sei. Zwar werde er den kleinen Patienten, verkündete der Kinderarzt, eine aktuelle Diagnose stellen, doch zu ihrer Weiterbehandlung müsse sich der Vater an einen Kollegen wenden.

Der Fall kam vor die Ärztekammer, aber dort erklärte sich der Vorsitzende vorbehaltlos für den renitenten Kinderarzt. Die Pflicht des Arztes zu unbedingter Hilfeleistung beziehe sich "lediglich auf Notfälle". Andernfalls dürfe sich ein Arzt, wenn "gewichtige Gründe" vorlägen, sehr wohl der Behandlung verweigern. Und solche Gründe seien bei dem NPD-Mann gegeben, nämlich "das gestörte Verhältnis zu den Eltern der minderjährigen Patienten". Es gäbe also keinen Grund zum Einschreiten.

Pankraz ist sich da nicht so sicher wie die Westfälisch-Lippische Ärztekammer. Haben Minderjährige wirklich kein eigenes Recht auf medizinische Versorgung? Es sind Fälle bekannt, wo Eltern, die Mitglieder von Sekten waren, welche kein Blut fließen lassen wollen, sich der Behandlung ihrer lebensgefährlich erkrankten Kinder widersetzten – und die Kinder kraft staatlicher Anweisung trotzdem behandelt und so vom Tode errettet wurden. Von da aus wäre zu fragen: Darf der Arzt, was die Eltern nicht dürfen, darf er die Behandlung von Minderjährigen wegen ideologischer Gegnerschaft zu deren Eltern verweigern?

Das wäre wohl eine ganz neue Auslegung des Hippokrates. Und was heißt eigentlich "gestörtes Verhältnis"? Wann ist das Verhältnis zwischen Patient und Arzt "gestört"? Wenn der Patient nicht genug Geld mitbringt? Wenn er übel aus dem Mund riecht und im Wartezimmer laut wird? Wenn er einer fremden Religionsgemeinschaft mit wunderlichen Bräuchen bei der Krankenbehandlung angehört? Oder geht die "Störung" wirklich erst los, wenn der Patient bzw. der bevollmächtigte Patientenvertreter Funktionär einer politischen Partei ist, gegen die man etwas hat? Was geht den Arzt eigentlich die politische Überzeugung seiner Patienten an?

Er hat aus den persönlichen Umständen des bei ihm Rat und Heilung Suchenden ausdrücklich ein Geheimnis zu machen. Denn so ging der Eid des Hippokrates, dem sich die Ärzte auch heute noch verpflichtet wissen: "Ich werde jeden bei mir Heilsuchenden bewahren vor Schaden und willkürlichem Unrecht. Was ich bei der Behandlung sehe oder höre oder außerhalb der Behandlung aus dem Leben des Heilsuchenden erfahre, werde ich verschweigen und als Geheimnis betrachten. Das gilt für Krieg wie für Frieden, für gute wie für schlechte Zeiten."

Sogar im Krieg versteht es sich von selbst, daß die gefangenen Feinde medizinisch versorgt und nötigenfalls ins Krankenrevier verlegt werden. Was sich jetzt in Münster abzeichnet, ist schlimmer als "normaler" Krieg, ist, wie gesagt, reinster Bürgerkrieg, in dem der Gegner gar nicht mehr als Mensch wahrgenommen wird, wo man sich blindlings umbringt und die "feindlichen" Kinder gnadenlos an die Garagentür nagelt, bloß weil ihre Eltern eine abweichende Meinung haben.

Wobei daran zu erinnern wäre, daß dem Arzt selbst im Bürgerkrieg eine Sonderrolle vorbehalten ist, daß er sich selbst dort – will er das Gebot des hippokratischen Eids erfüllen – aus den politischen Leidenschaften tunlichst herauszuhalten und für alle dazusein hat, ein Doktor Schiwago zwischen den Fronten. Etwas von diesem Ethos ist übrigens noch im friedlichsten Alltag gegenwärtig. Auch in Friedenszeiten wirken Ärzte als politische Eiferer, als Parteivorsitzende oder Plakatkleber, irgendwie deplaziert. Ihr Platz ist nie und nimmer auf den Zinnen der Partei.

Viel ist in letzter Zeit davon die Rede, daß die Forderungen des hippokratischen Eids nicht mehr ausreichten, um den Ärzten angesichts der immer komplexer und unübersichtlicher werdenden gesellschaftlichen Umstände verläßliche ethische Orientierung zu geben. Der Ruf nach ärztlichen Ethik-Seminaren erschallt, in denen etwa Fragen der vorgeburtlichen Diagnostik, des Organspendens oder der künstlichen Verlängerung des Lebens mittels Apparatemedizin behandelt werden. Pankraz seinerseits würde dem Lehrplan gern eine weitere Disziplin hinzufügen: "Der Arzt als Politiker und Sittenbewahrer".

Ärzte sind ja keine überirdischen Wesen, keine Halbgötter in Weiß. Andererseits ist ihr Stand in früheren Zeiten immer wieder direkt mit dem Göttlichen in Verbindung gebracht worden. Wer ein guter Priester oder ein guter Politiker sein wollte, der mußte in diesen Zeiten in erster Linie ein guter Arzt, ein Medizinmann und Meister der Heilkunst sein. Etwas von dieser Aura ist bis in unsere Gegenwart hinein erhalten geblieben. Das soziale Prestige der Ärzte ist nach wie vor erstrangig, nach wie vor wird von ihnen gern politischer Rat entgegengenommen.

Um so wichtiger, daß sie sich in jeder Hinsicht "präsidial" verhalten, für das Ganze eintreten und nicht für irgendeine partielle Richtung, daß sie sich nicht bei jeder politischen Gelegenheit aus dem Fenster hängen und keine Leidenschaften anheizen. Insofern wirkte das Verhalten des Kinderarztes von Münster und seiner zuständigen Ärztekammer geradezu katastrophal.

Wenn das, was jener Kinderarzt demonstriert hat, Schule machte, würden wir am Ende eine heillos fragmentierte Gesellschaft bekommen, mit nach Parteizugehörigkeit klinisch voneinander getrennten Krankenhäusern, Schulen, Kinderkrippen, Banken, Kaufhäusern. Oder – in der Vorstellung noch unangenehmer – eine Gesellschaft mit einer durch PC-Spruch stigmatisierten Minderheit, die die größten Schwierigkeiten hätte, ungestört einzukaufen, Konten zu eröffnen, ihre Kinder auf ordentliche Schulen zu schicken – und zum Arzt zu gehen. Dergleichen kommt einem bekannt vor.


 
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