© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    24/99 11. Juni 1999


Michael Kleeberg: Ein Garten im Norden. Roman
Kulturnation zum Kuscheln
Doris Neujahr

Die Leiden an der "Bonner Republik" äußern sich vorzugsweise als Kritik an ihren ästhetischen Defiziten. Das steht, erstens, in guter deutscher Tradition und drängt sich, zweitens, auf, weil die Größe des neudeutschen Reichtums zum Niveau seiner Präsentation in einem so grotesken Mißverhältnis steht. In der Literatur sind der Spott über die häßlichen, erinnerungslosen deutschen Städte mit ihren disneylandartigen Zentren, ihren breiten Autoschneisen und Fußgängerzonen gängige Topoi.

Der autogerechte Wiederauf- und Umbau der vom Bombenkrieg lädierten Städte, der vielen Grundrissen und Silhouetten den endgültigen Garaus machte, war auch ideologisch motiviert. Er zielte auf die Überwindung "deutscher Verhängnisse", für die Thomas Mann die Chiffre "Kaisersaschern" prägte. Sein Serenus Zeitblom konstatiert im "Doktor Faustus", daß die deutschen Städte "atmosphärisch wie schon in ihrem äußeren Bilde etwas stark Mittelalterliches bewahrt hatten", was er als Ausdruck einer "altertümlich-neurotischen Unterteuftheit und seelischer Geheimdispositionen" deutete. Derlei Rückbindungen ans Dunkel-Archaische sollten nach 1945 dem hellen Geist von Rationalität und Technizismus weichen. Die Erwartung, damit eine Art demokratisch grundierter Urbanität zu befördern – eine anmutige Synthese aus Mobilität und Konsum einerseits und kulturellem Gedächtnis andererseits, eine Grazie im Umgang mit sich und anderen unter den Bedingungen des modernen Ballungsraums –, hat sich nicht erfüllt. Die Berliner Gehsteige sind dreimal so breit wie die in Paris, und doch wird man an der Spree häufiger angerempelt. Das eigentliche Ergebnis ist, wie gesagt, eine flächendeckende Häßlichkeit, die alte Neurosen fortschreibt und neue hervorruft.

Die Phantomschmerzen und Verlustgefühle hat Christian Kracht im Roman "Faserland" (1995) mit schnoddriger Ergriffenheit auf den Punkt gebracht: "Das ist nun Heidelberg, und es ist wirklich schön dort im Frühling. Dann sind die Bäume schon grün, während überall sonst in Deutschland noch alles häßlich und grau ist, und die Menschen sitzen in der Sonne an den Neckarauen. Das heißt tatsächlich so, das muß man sich erstmal vorstellen, nein, besser noch, man sagt das ganz laut: Neckarauen, Neckarauen. Das macht einen ganz kirre im Kopf, das Wort. So könnte Deutschland sein, wenn es keinen Krieg gegeben hätte und wenn die Juden nicht vergast worden wären. Dann wäre Deutschland so wie das Wort Neckarauen."

Noch grundsätzlicher setzt die Kritik von Michael Kleeberg in seinem neuen Roman "Ein Garten im Norden" an. Der Ich-Erzähler Albert Klein leidet an Deutschland: an seinen "Städten, die weniger Vergangenheit zu haben scheinen als die amerikanischen", und an aggressiven deutschen Autofahrern als den Nachfahren der Nazis. Er fragt sich: "Wie kann man in ein Land zurückwollen, in dem nur die Gegenwart existierte, in dem man nur die Gegenwart gelebt hatte?" Diese Auswahl an Leidensgründen zeigt, daß die Mängel im Ästhetischen auf Defizite in Politik, in Kultur- und Geschichtsbewußtsein, in individueller und kollektiver Psychologie verweisen. Deshalb unternimmt Kleeberg den Versuch einer "Verbesserung Deutschlands".

Das Buch hat zwei Erzählstränge: Der erste gehört dem Ich-Erzähler, der 1995 nach zwölfjährigem Frankreich-Aufenthalt nach Deutschland zurückkehrt. Der zweite ist der seines Alter ego, eines Bankiers und Schöngeistes, der ebenfalls Albert Klein heißt und während der Weimarer Republik in der Mitte Berlins einen märchenhaften Garten anlegt. Klein d.Ä. wurde 1889 geboren, im selben Jahr wie Hitler, dessen Machtantritt er zu verhindern sucht. Sein "Garten im Norden" ist Treffpunkt der politischen und geistigen Elite Europas, republikanisches Ideal, Heiliger Hain und Pädagogische Provinz in einem. In der Nazi-Zeit wird er zerstört, die DDR schlägt ihn dem Mauerstreifen zu, danach ist er Brachland, das Klein d.J. durch Erbschaft zufällt. Als geistige Mitte des Landes will er es neu kultivieren. Sein Wunsch ist "ein anderes Deutschland" ohne die Dominanz "grünroter, protestantischer Büßertypen", inquisitorischer Vergangenheitsbewältiger und der "regenbogenfarbenen Suhrkampkultur". Eine Dreiheit von "Schönheit, Ratio, Maß" soll herrschen, eine Synthese aus Zivilgesellschaft und geläuterter Kulturnation. Klein d.J. will die "BeErDe" nicht länger als Kind der "Stunde Null" verstehen, sondern ihre Wurzeln tiefer in die Geschichte hinablassen. Den Auftrag dazu empfängt er in einer Prager Synagoge beim Hören eines hohen Cello-Tons. Motivisch knüpft das an das Weltuntergangsoratorium "Dr. Fausti Weheklag" aus Thomas Manns Roman an, das mit dem hohen g eines Cellos als Symbol erhoffter Gnade für Deutschland endet. Diesen Gnadenzustand will Kleeberg realisieren. Dazu hat er eine Menge kulturgeschichtlicher Aufsätze gelesen und zitiert aus der historischen Literatur. Sichtlich beeindruckt haben ihn Berichte über die großbürgerliche Berliner Tiergarten-Gesellschaft, deren Salons – ganz in der Nähe des sagenhaften Gartens – durch die Juden-Gesetze entvölkert und von Speers "Germania"-Projekt und alliierten Bomben zerstört wurden. Keine Frage, Kleeberg wollte einen Roman der "Berliner Republik" schreiben. Der aber ist mißlungen, einmal aus formalen Gründen, vor allem aber wegen seiner falschen Konzeption eines neuen Welttheaters, das die deutsche Kultur urbanisieren und rückwirkend mit dem demokratischen Geist kompatibel machen soll. Wenn er Martin Heidegger aus dem Schwarzwald nach Berlin verpflanzt, wo er statt "Sein und Zeit" gefällige Miniaturen über Kaffeehäuser verfaßt, die nach Franz Hessel und Alfred Polgar klingen, und Richard Wagner statt am "Ring" an einer Oper "Die Kommune" werkelt, überbietet Kleeberg sogar noch die "Büßertypen". Wollen jene "Kaisersaschern" und die "Neckarauen" – "wegen Hitler" – zugunsten eines sterilen Moderne-Begriffs verwerfen, löscht Kleeberg sie, in der Absicht, sie vor der Selbstzerstörung zu bewahren, nachträglich aus. "Warum hörte das geistige Deutschland da auf, wo das politische begann?" In diesem starren Gegensatz, den er durch ein Goethe-Schiller-Zitat zu beglaubigten versucht, ist Kleebergs konzeptioneller Eklat beschlossen! Der Regisseur Hans Jürgen Syberberg, der letzte legitime Fürst deutscher Finsternisse, der zugleich ihr bildmächtiger Chronist ist, ließ in einer Szene seines Sieben-Stunden-Epos‘ "Hitler, ein Film aus Deutschland" den "Führer" aus Wagners Grab entsteigen: "Hitler" also nicht jenseits der deutschen Kultur, sondern als eine ihrer extremen Möglichkeiten! Erläuternd wendet sich der Moderator an eine Hitler-Marionette: "Du glaubst, du schiebst und wirst geschoben, der Spiegel unserer Gier und Träume nach Macht und Gemeinschaft."

Die Rettung der kulturellen Exklusivität vor den geschichtlichen Verhängnissen, wie Kleeberg sie darstellt, macht ihre Nivellierung in Wahrheit total. Indem er der deutschen Kultur ihre Giftzähne zieht, nimmt er ihr genau das, was sie originär macht. Er schafft allenfalls eine Kulturnation zum Kuscheln, ein durchdemokratisiertes Musikantenstadl! Adorno hatte das "Ineinander des Großartigen, in keiner konventionell gesetzten Grenze sich Bescheidenden, mit dem Monströsen" als "spezifisch deutsch" bezeichnet. Daß dieses "Pathos des Absoluten" mit seinem impliziten Erlösungsversprechen fatale gesellschaftspolitische Wirkungen zeitigte, weiß man spätestens seit Nietzsches Wagner-Kritik. Kleebergs Entwurf aber ist keine Alternative dazu! Die Deutschen wären nur Jahrzehnte früher zu verunglückten Amerikaner geworden und kulturell weit ärmer dran, als sie es heute sind.

Diese tragische Dialektik hat Kleeberg nicht erfaßt. Daher mündet sein Versuch, eine banalisierte Gegenwart durch die Beschreibungen edler Interieurs, kostbaren Kristalls und honigfarbenen Haars hoher Frauen mit einen auratischen Gegenentwurf zu konfrontieren, um die Sehnsucht nach Dauer, nach Sinn- und Traditionszusammenhängen zu veranschaulichen, wieder bloß im nostalgischen Kitsch. So ist der Roman künstlerisch belanglos, doch als Zeitsymptom außerordentlich bemerkenswert. Es zeigt, daß das Unbehagen an der Stunde-Null-Kultur inzwischen so stark ist, daß die Fragen nach einem lebbaren, alternativen kulturellen Selbstverständnis drängender und prinzipiell werden. Am Anfang jeder möglichen Antwort hat eine Einsicht zu stehen, die Hans Jürgen Syberberg 1997 auf der letzten documenta mit seiner Multimedia-Installation "Cave of Memory" vermittelte: In ihrem Zentrum stand der von Oskar Werner verkörperte "Prinz von Homburg", der den Tod besiegt, indem er ihn erst einmal akzeptiert. Vor dieser Notwendigkeit schützt keine Märchenstunde.

 

Michael Kleeberg: Ein Garten im Norden. Roman, Ullstein Verlag, Berlin 1998, 590 Seiten, 48 Mark


 
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