© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    24/99 11. Juni 1999


Peter Handke: Der Prügelknabe des Feuilletons schlägt zurück
Plappernde Stimmen
Andrzej Madela

Peter Handke ist auf das Amselfeld seiner Gerechtigkeit gezogen. Im heiligen Kriegszorn schleudert er Bannflüche gegen die getürkten Serbien-Berichte in den verdammten Medien, deren er sich so virtuos zu bedienen weiß. Dabei sind sich FAZ und Die Zeit seines grimmigen Hasses gewiß; zumindest erstere erträgt ihn halbwegs mit Langmut.

Anders die Frankfurter Rundschau: diese hat, gesinnungshygienisch vorbeugend, sein jüngstes Stück in atemberaubender Eile nach "Belegen" durchforstet, die erweisen sollen, daß der Mann einen veritablen Sprung in der Schüssel hat. Wäre dies der Fall, könnte man ihn, so die Denunziation, der hohen Kunst deutscher Psychiatrie überantworten.

So einfach liegt der Fall aber nicht. Denn mit dem literarisch und materiell etablierten Österreicher geht ein Kritiker ans Werk, der nun wirklich nicht die Nato verteufelt, um schon beim nächstmöglichen Bücherausstoß seine Auflagen gehörig in die Höhe zu stemmen. So steht manch ein Kulturmensch vor einem Rätsel und fragt sich, was den langhaarigen Endfünfziger denn um Himmels willen reiten mag, aus der Beschaulichkeit einer Pariser Vorstadt in das Nato-sanierte Karagujevac zu reisen und sich dort vor Krankenhausruinen ablichten zu lassen.

Dabei hat er bereits in "Gerechtigkeit für Serbien" (1996) die Karten auf den Tisch gelegt. Das Buch besteht aus zwei sehr ungleichen Bauteilen: einer fulminanten Kritik an den Medien für ihre Nachrichten aus Jugoslawien und einem viel schwächeren Hauptteil zu einer Reise nach Serbien 1995.

Handkes hellsichtige Ablehnung der vorschnellen Festlegung von Opfer und Täter und der unbarmherzige Verriß von Fertigteilwahrheiten lesen sich heute noch erstaunlich frisch. Auch sein Verdacht gegen medial förmlich ausgebeinte Wahrheit hat sich mittlerweile erhärtet, ruft man sich einmal die einschlägigen Klischees ins Gedächtnis: die unvermeidlichen bosnischen Opfer mit ihren Martergesichtern hinter Stacheldraht; die bärtigen serbischen Täter in ihren Tarnanzügen und charakteristischen Tschetnik-Mützen; die geradezu automatische Erwähnung von Psychiaterberuf und mäßigem künstlerischen Erfolg bei Radovan Karadzic, beides in durchsichtiger Parallele zu kitschtriefenden Mustern à la Hollywood. Was Wunder, daß Handke bei soviel zombiegerechtem Medienmahl dessen Köchen in die Suppe spuckt?

Der Reisebericht hat hingegen nicht eingelöst, was man sich von ihm versprach. Zu banal blieben die Beobachtungen, zu oberflächlich die Eindrücke, zu schwach die Figurenzeichnungen. Entstanden ist ein verunglücktes Tagebuch mit deutlicher Harmoniesucht. Das mag vor allem an Handkes Zurückhaltung liegen, sich einmal so richtig herzhaft die Medienklischees in Serbien vorzuknöpfen, wie er dies bei Spiegel und FAZ tut. Die übliche Stärke des Autors, verlogenen Sprachbildern auf die Schliche zu kommen, greift hier nicht. Statt dessen stopft er den Leser mit leicht überzuckerten Bildern serbischen Daseins voll.

Daß "Gerechtigkeit für Serbien" nicht die große Wirkung entfaltet, liegt an der fatalen Unentschiedenheit zwischen außergewöhnlicher Medienkritik und unausgegorenem Reisebericht. Liest man dieses Buch heute nochmals, wünscht man sich den letzteren zum Teufel und die Kritik gründlicher ausgearbeitet. Was hätte da für ein Werk entstehen können über unsere medial vermittelte Kultur und ihre Sinndefizite, über die sogenannte Weltöffentlichkeit und ihre gierige Lust an nackten Opfern und reinen Bösewichten. Vor allem aber: Um wieviel effektvoller wäre ein grandioser Wurf über den moralvernarrten Westen, der über eigene Leichen stolpert, anstatt einer kleinlichen Erbsenzählerei darum, ob serbische Geschosse in oder doch nur bei Dubrovnik eingeschlagen sind.

So ist die Debatte über das Buch zu einer Farce der Mißverständnisse geraten: Für das künstlerisch mißglückte Buch hat der Autor politische Prügel bezogen. Dies nicht etwa für die offensichtliche Schwäche des Berichts, sondern für dessen (falsche!) Parteinahme. Was den Prüglern hingegen nicht auffiel, war, daß sich Handkes Parteinahme für Serbien zu einem gehörigen Teil aus ästhetischen Gründen erklärt. Im beschaulichen Serbien des Herbstes 1995 glaubt er eine Zeit wundersam stehengeblieben, die von unserer schnellebigen und unpersönlichen Maggi-Fix-Kultur noch nicht angefressen worden ist: "Und ich erwischte mich dann sogar bei dem Wunsch, die Abgeschnittenheit des Landes ... möge andauern; möge andauern die Unzugänglichkeit der westlichen oder sonstwelchen Waren- und Monopolwelt."

Wäre die Kritik an Handke ehrlich, so hätte sie hier anzusetzen: an seiner allenfalls literarisch, niemals aber sozialhistorisch durchzuhaltenden, reichlich naiven Vorliebe für Zustände, die er in einem "unschuldigen" Frühstadium der Moderne wähnt. Dieser Kritik hätte sich auch eine ideale Angriffsfläche geboten, die der Autor in einmaliger Offenheit präsentiert: Serbien als Urbild vermeintlich lebensfroher Abgeschiedenheit vom kapitalistischen Mahlstrom. Bei dieser Projizierung von gewünschten auf wirkliche Zustände kommen bei ihm die Serben blendend, die modernitätsgeilen Slowenen dagegen denkbar schlecht weg.

Nun schlägt der Prügelknabe des deutschen Feuilletons mit voller Wucht zurück. Denn "Die Fahrt im Einbaum" ist ein textgewordener Zornausbruch eines Mannes, der Literatur und Politik um jeden Preis zusammenzwingen will. Das mag sich anfangs noch recht gut anlassen. Handke schickt zwei Regisseure, einen Spanier und einen Amerikaner, zehn Jahre "nachdem das große Ganze auseinanderkrachte", auf den Balkan. Die beiden, historisch völlig unbeleckt, sollen dort einen ultimativen Film drehen über den letzten Krieg des Westens gegen "die Kurben oder Sorben". In einem gottverlassenen Hotel nehmen sie ein Defilee von "Experten" ab: von Historikern mit Fertigteilwahrheit bis hin zu Spezialisten für Schwarze Löcher, aber auch "für Leute mit zwei Köpfen und halben Herzen" ist alles vertreten.

Fast überflüssig zu erwähnen, daß ein jeder seine eigene, seltsam vorgekaut wirkende "Wahrheit" aufzutischen weiß und so nicht wenig zur Verwirrung der Hauptakteure beiträgt. Aber auch die ganz und gar Anderen, so die geheimnisvolle "Fellfrau", der verstockte "Waldläufer" oder gar der "Grieche", die allesamt kaum in unsere westlich sanierten Sehraster einzufügen sind, pochen auf ihre (Teil-)Wahrheit und unterscheiden sich zunächst nur wenig von ihren Gegenspielern.

Das Spiel kippt rapide, als die drei "Internationalen oder Mountainbiker", im Hauptberuf Balkan-Korrespondenten diverser Großmedien, ins Geschehen eingreifen. Man merkt sofort: Hier schlägt der bis dahin hochgestochene Handke-Duktus in Hohn um, die drei Figuren sind nur hohle Schalen, in die sich die verfasserischen Verletzungen und sein Zorn ergießen.

So kommt Josef Japser, politischer Redakteur der Zeitung Wacker Westwärts, als "Finsterdarm" und "Schattenficker" unter die hochschäumenden rhetorischen Bugwellen. Mark Winner, Träger des Pulitzer-Preises, gerät zu einem "Furzwurz". Die Dritte im Bunde, natürlich Mitarbeiterin eines ominösen "Interkontinentalen Journalistenbüros namens Text ohne Grenzen", entpuppt sich als Spezialistin für "Fertigsatzpisse"; und alle drei sind sie überdies "Common-sense-Puppen" und Hersteller einer "Trompetengrammatik, untermischt mit Bluthundgewinsel".

Das ist der Augenblick der Niederlage. Denn Handke bringt nicht die Geduld auf, die Kritik an der "Wertegemeinschaft" als Kritik an ihrer verlogenen Sprache zu servieren, die sich ja von allein ad absurdum führt. Nein, ihm reißt mittendrin die Geduld, er stürzt aus seinem Regiesessel mitten ins Stück hinein, weil er den diffizilen Wahrheitskampf nicht einfach darstellen, sondern ihn als Partei gewinnen will, indem er seine Gegner zu Kompaktidioten mit auswendig gelernten Reden degradiert.

Mag ihm die Darstellung der Balkan-Figuren – insbesondere die des "Waldläufers" und der "Fellfrau" – auch gelingen; bei den Mountainbikern ist erbärmliche Schwarz-Weiß-Malerei, ja Flachgeistigkeit angesagt.

Wie die Figurenzeichnung, so auch das ganze Stück: Neben eindrucksvollen Sprachszenen steht billigste Agitation, neben tiefgezeichneten Schicksalen seichte Plakatkunst, neben ergreifendem Verständnis für den Balkan operettenhafte Klamotte. So muß auch "Die Fahrt im Einbaum" einen verpfuschten Eindruck hinterlassen, wenn auch der Pfusch streckenweise von grandiosen Ministücken durchsetzt ist.

Bei soviel Vordergründigkeit geht die Ästhetik völlig unter, die – wie schon in "Gerechtigkeit für Serbien" – den Balkan als Exempel von Lebenspoesie statuiert. So verwundert es nicht, wenn die "Fellfrau" das Ursprüngliche dieses Landstrichs in den Vordergrund rückt: "Die Bergwiesen mit den Buchen und Birken; die grünen Gebirgsflüsse und die lautlosen Ströme mit den Einzelmenschen verstreut an den Ufern: das ist der Balkan! Wo zwei Schmetterlinge einander umtanzen und als drei erscheinen: das ist der Balkan! Anderer Herren Länder haben als Heiligtum ein Schloß oder einen Tempel. Unser Heiligtum ist der Einbaum. Am Fluß stehen: das ist Frieden. An den Flüssen stehen: das wird Frieden sein."

Was hingegen verwundern muß, ist die simple Masche, mit der Peter Handke den Angriff des Westens auf die "Kurben oder Sorben" erklärt. Folgt man seiner Deutung, so muß man an einen veritablen abendländischen Selbsthaß glauben, der – nicht politisch, sondern gänzlich individuell motiviert – aus rasender Verachtung gegen sich selbst den eigenen Untergang suche, indem er andere in den Abgrund reiße. Kein Gegenstück davon, sondern eher dessen Ergänzung sei der Selbsthaß auf höherer, weil politischer Ebene: Als Moral verkleidet, die, so Handke in der Süddeutschen Zeitung vom 15./16. Mai, nur ein anderes Wort für Willkür sei, betätige sich dieser Selbsthaß als flächendeckende Planierraupe in Landstrichen, die nicht zeitgleich mit dem Westen ticken.

Trotz Handkes unwiderruflichen Verdikts wird man nicht gänzlich danebenliegen, anzunehmen, daß die Nato nicht aus primär ästhetischen Gründen Krieg gegen Serbien führt. Und noch eines wird festzuhalten sein: Peter Handkes Versuch, die eklatanten Widersprüche des Westens zu erklären, ist ge-scheitert, weil er diesem keine wirk-liche(n) Stimme(n) eingeräumt hat. Schon der Glaube, der ganze Westen ticke nach einem Wecker, führt in die Irre. Das Redeverbot – denn die hölzernen Figuren in seinem Stück reden nicht wirklich, sie plappern nur – für Handke tut dies nicht minder.

 

Die Premiere des Handke-Stücks "Die Fahrt im Einbaum" hat am 9. Juni im Wiener Burgtheater unter der Regie von Claus Peymann stattgefunden.


 
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