© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    24/99 11. Juni 1999


LOCKERUNGSÜBUNGEN
Existenzfragen
Karl Heinzen

"Europa muß man richtig machen": Das Sprachniveau des CDU-Wahlkampfes zeugt von der Ausrichtung auf neue Zielgruppen, von einer Strategie, die über den 13. Juni hinausdenken will. Die Kurzkampagne gegen den "Doppelpaß" ist Geschichte. Sie stand im Widerspruch zur Parteiidentität und war daher sowieso nicht lange durchzuhalten. Nun heißt es: Man darf niemanden vor den Kopf stoßen, auf dessen Stimme die Union vielleicht schon morgen angewiesen sein könnte.

Auch wenn die noch ausländischen Mitbürger sehr wohl zwischen ihrer bekennenden und ihrer nur klandestinen Lobby zu unterscheiden wüßten, so wären sie sich in der Regel doch noch über ihre wahren Parteipräferenzen im unklaren. Es ist also nicht ausgeschlossen, daß so mancher per Zufall den Weg zur CDU findet. Auf die Dauer jedoch wird er sich nicht täuschen lassen: Die Partei ist also gut beraten, wenn sie ihn durch mehr Flexibilität in Programm und Ästhetik doch noch an sich zu binden versucht.

Die Europawahl ist ein guter Auftakt für diese Neupositionierung der Union. Es geht um mehr Glaubwüdigkeit im Einsatz für eine Politik, die nicht mehr nur das Wohl bestimmter Menschen vor Augen hat. Niemand kann uns zu Opfern zwingen, wir müssen lernen, sie freiwillig zu erbringen.

Europa ist wie eine große Familie: Wer mit dem anderen teilen muß, lebt glücklicher, wenn er dies begrüßt. Das neue Zusammenfinden der Menschen setzt die Auflösung alten Denkens voraus: Fast alle Europäer sind Ausländer – da merkt man, wie überholt und nicht nur verachtungswürdig die Kategorien des Nationalstaates heute sind. Keiner sollte meinen, sich auf einen Schutz verlassen zu können, den ihm seine Staatsangehörigkeit vermeintlich gewährt. Je weniger der Paß wert ist, desto harmonischer kann die Eingliederung der Neuankömmlinge gelingen, desto leichter wird es auch für die Altbevölkerung, Exklusivrechte aufzugeben.

Das halbe Jahrhundert unangefochtener staatlicher Existenz ist zu wundersam und von zu vielen Zufälligkeiten überschattet, als daß wir einer Fortsetzung blind vertrauen dürften. Wir müssen auf dem von Helmut Kohl vorgezeichneten Weg fortschreiten und der drohenden Aufgabe unserer Interessen durch deren Preisgabe zuvorkommen. Darin liegt die Zukunftsfähigkeit der Union, daß sie dieses Erbe für bessere Zeiten aufbewahrt.

Niemand wird uns aber vertrauen, wenn wir in unserem Gemeinwesen an Positionen festhalten, die auch andere, unselige Optionen offenhalten können. Die Fakten, die die neue Regierung schafft, werden hier aber für Beruhigung sorgen. Regierung und Opposition sind in Existenzfragen unserer Nation nicht auseinanderzudividieren.


 
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