© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    24/99 11. Juni 1999


Springende Dame
von René Sotier

Anläßlich der EU-Gipfelkonferenz haben die Staats- und Regierungschefs beschlossen, künftig mehr Verantwortung in verteidigungs- und sicherheitspolitischen Fragen zu übernehmen. Diese Weichenstellung, welche eine geopolitische Aufwertung Westeuropas durch Kräftebündelung zur Folge haben soll, wurde mit dem Kürzel "GASP" versehen. Diese gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik soll bis Ende des Jahres 2000 einen militärischen Arm erhalten. Hierzu soll die Westeuropäische Union (WEU) fruchtbar gemacht werden. Dieses die Staaten Belgien, Deutschland, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Italien, Luxemburg, die Niederlande, Portugal und Spanien umfassende Verteidigungsbündnis soll aus dem Schatten der Nato heraustreten und in die EU integriert werden. Über ihre seit jeher normierte Defensivausrichtung hinausgehend soll diese Zukunfts-WEU auch "Friedensmissionen" durchführen können. Was darunter zu verstehen ist, zeigen die täglichen Medienberichte zum Jugoslawienkrieg. Als oberster Repräsentant der WEU in spe wird Javier Solana schon als Mister GASP gefeiert.

So begrüßenswert eine gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik auch ist, so muß doch klar sein, daß die WEU ausschließlich unter europäischer Kontrolle zu stehen hat. Jede personelle Verflechtung mit der Nato verbietet sich. Die führenden Köpfe der WEU des 21. Jahrhunderts sollten ausnahmslos aus WEU-Mitgliedstaaten rekrutiert werden und noch in keinem Sonderverhältnis zur Nato gestanden haben. Das soll nicht heißen, daß es keine Koordination von Nato und WEU geben sollte. Nur: Jede Einwirkungsoption muß maximal transparent, berechenbar und nachvollziehbar sein. Hierfür bedarf es eines völkerrechtlichen und detaillierten Koordinationsvertrages zwischen beiden. Unterbleibt derartiges, so könnte sich die in Entstehung begriffene neue WEU in den Augen von Drittstaaten als "Figurentausch" darstellen. Um in der Terminologie Zbigniew Brzezinskis zu sprechen: Diverse Bauern, Läufer, Springer und Türme würden zu einer Figur zusammengefaßt, die alle Optionen aufwiese und besonders flexibel und schnell zu manövrieren wäre. Es entstünde eine Art springende Dame auf dem europäischen Schachbrett.

Nun ist nicht gewiß, was die Gegenspieler USA im global chess von derartigen Dreistigkeiten halten. Im schlechtesten Fall könnten sich diese, des Spieles ebenfalls kundig und eine springende Dame nicht kennend, veranlaßt sehen, das Schachbrett mit einem Donnerschlag zu zertrümmern. Darum muß Europa eigenständig handelnder Akteur werden – durch eine unabhängige gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik.


 
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