© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    23/99 04. Juni 1999


Kernbrennstäbe: In Deutschland scheiterte die Wiederaufarbeitung aus politischen Gründen
Der Endlagerung zugeführt
Rüdiger Ruhnau

Mit der Entdeckung der Kernspaltung durch die deutschen Chemiker Otto Hahn und Fritz Strassmann wurde 1938 das Atomzeitalter eingeleitet. Die beiden Wissenschaftler bestrahlten Uran mit langsamen Neutronen und stellten dabei fest, daß der durch Neutroneneinfang gebildete Zwischenkern 236/92 U unter enormer Wärmeentwicklung in zwei Bruchstücke gespaltet wird. Gleichzeitig werden dabei je Elementarakt zwei bis drei Neutronen freigesetzt, die eine Kettenreaktion ermöglichen. In einem Kernreaktor laufen solche Kernspaltungsreaktionen kontrolliert ab. Die entstehende Wärme wird über einen Wasserdampfkreislauf mittels Turbine und Generator in elektrische Energie umgewandelt.

Bei vollständiger Spaltung von einem Kilogramm Uran 235 werden 19 Milliarden Kilokalorien (oder 81 Milliarden Kilojoule) frei. Ein Kilogramm U 235 entspricht dem Brennwert von 2,7 Millionen Kilogramm Steinkohle! Darin liegt die außerordentliche Bedeutung der Kernenergie.

Das erste große deutsche Kernkraftwerk, ein Siedewasserreaktor mit einer elektrischen Leistung von 250 Megawatt (MW), ging 1966 in Grundremmingen an der Donau in Betrieb. Die Leistung reichte aus, um eine Großstadt von über 100.000 Einwohnern mit elektrischem Strom zu versorgen. Das KKW wurde nach elf Jahren stillgelegt, heute betreibt das Energieunternehmen RWE-Bayernwerk in Grundremmingen zwei KKW-Blöcke mit je 1.344 MW. Gegenwärtig sind in Deutschland 19 Kernkraftwerke in Betrieb, die jährlich 162 Milliarden kWh elektrischen Strom erzeugen, das entspricht einem Anteil von 34 Prozent an der öffentlichen Stromversorgung.

Das Herz eines Reaktors sind die mit angereichertem Urandioxid (UO2) gefüllten Brennstäbe, deren gasdicht abschließende Metallhülse ein Austreten der radioaktiven Spaltprodukte verhindert. Eine Anzahl Stäbe (zirka vier Meter lang, zehn Zentimeter Durchmesser) werden zu einem Brennelement zusammengefaßt. Insgesamt enthält das Reaktorherz etwa 100 Tonnen zu drei Prozent angereichertes Uran. Infolge der Kernspaltungsvorgänge verändert sich die Füllung der Brennstäbe, man kann diese nicht wie bei fossilen Energieträgern in einem Durchgang umsetzen. Daher müssen sie nach drei bis vier Jahren ausgewechselt werden. Aus einem KKW mit 1.300 MW elektrischer Leistung werden jährlich ungefähr 35 Tonnen abgebrannter Kernbrennstoff entnommen. Diese abgebrannten Brennelemente besitzen wegen der entstandenen radioaktiven Spaltprodukte nebst einem Anteil von neuentstandenem spaltbaren Plutonium eine hohe Strahlungsintensität und Wärmeentwicklung, die allerdings wegen des großen Anteils kurzlebiger Radionuklide bald abnehmen. Nach ein bis zwei Jahren im mit Wasser gefüllten Abklingbecken ist die Radioaktivität auf einen Bruchteil des ursprünglichen Wertes zurückgegangen. Für den weiteren Weg kommt entweder die Endlagerung in Frage, oder es erfolgt die Wiederaufarbeitung.

Die Agenda 21 verpflichtet zum Prinzip Nachhaltigkeit

Ein ausgedientes Brennelement enthält noch rund 95 Prozent Uran und ein Prozent Plutonium, der Rest sind nicht verwertbare Spaltstoffe. Bei einem Preis von etwa 200.000 Mark für ein Brennelement ist die Rückgewinnung von Uran und Plutonium ökonomisch sinnvoll. Nach entsprechender chemischer Aufbereitung können beide wieder als Kernbrennstoffe eingesetzt werden. Erst recht verpflichtet die Agenda 21, das auf der Ersten Weltkonferenz für Umwelt und Entwicklung verabschiedete Handlungsprogramm, die 179 Unterzeichnerstaaten auf das Prinzip der "Nachhaltigen Entwicklung". Das ist gleichbedeutend mit ökologischem, ressourcenschonendem Wirtschaften, damit späteren Generationen die Lebensgrundlagen gesichert bleiben. Uran ist kein nachwachsender Rohstoff. Die Endlagerung abgebrannter Kernbrennstäbe widerspricht einer effektiven Nutzung der Rohstoffe.

In Deutschland fand eine Wiederaufbereitung abgebrannter Brennelemente früher im Kernforschungszentrum Karlsruhe statt. Dort entwickelte man zukunftsorientierte chemische und physikalische Verfahren, um die große Menge noch vorhandener Wertstoffe abzutrennen. Im Gegensatz zum Uran ist Plutonium extrem giftig, es kann nur in völlig abgeschlossenen, von außen gesteuerten sogenannten Handschuhkästen verarbeitet werden. In einer komplizierten Folge von Extraktionsprozessen werden die Wertstoffe abgetrennt, in Oxide überführt und als MOX-Brenn-element (Mischung von Uran- und Plutoniumoxid) den Kernkraftwerken wieder zugeführt. Von 1971 bis 1990 wurden in Karlsruhe 208 Tonnen bestrahlter Kernbrennstoffe aufgearbeitet. Dann kam das politische "Aus" für die Wiederaufarbeitungsanlage, die jetzt in eine "grüne Wiese" verwandelt wird. Ebenso erging es der einzigen deutschen Brennelementefabrik im hessischen Werk ALKEM bei Hanau. Wegen Sicherheitsmängeln wurde die Plutoniumfirma (beteiligt waren u. a. Siemens, Hoechst, Bayer) vom damaligen Landesumweltminister Fischer 1991 geschlossen. Auch die seinerzeit vorgesehene Wiederaufarbeitungsanlage im bayerischen Wackersdorf wurde aus politischen Gründen aufgegeben. Beträchtliche finanzielle Mittel sind verplant worden. Insgesamt förderten Bund und Länder die friedliche Nutzung der Kernenergie mit mehr als 50 Milliarden Mark.

Unter den gegebenen Umständen waren die KKW-Betreiber froh, daß Frankreich und Großbritannien die Wiederaufarbeitung deutschen Atommülls in ihren Ländern ermöglichen. Fortan gingen die umstrittenen Castor-Transporte nach La Hague und Sellafield, bis im vergangenen Jahr, nach Bekanntwerden der verstrahlten Nukleartransporte, die abgetretene Bundesregierung einen Beförderungsstopp verhängte. Wenn es nach dem Willen der derzeitigen grünen Umweltministers Trittin geht, soll die Wiederaufarbeitung ganz verboten werden. "Bereits zum Zwecke der Aufarbeitung abgegebene und noch nicht aufgearbeitete bestrahlte Kernbrennstoffe sind ab dem 1.1.2000 über die erforderliche Zwischenlagerung der direkten Endlagerung zuzuführen", hieß es in dem Entwurf für eine Novelle des Atomgesetzes.

Wenn die ausgedienten Brennelemente (jährlich 300 bis 600 Tonnen) künftig nur noch der Endlagerung zugeführt werden dürfen, treten neue Probleme auf. Bevor die Kernbrennstäbe in einen endlagerungsfähigen Zustand (Konditionierung) gebracht werden, ist eine längere Verweildauer im Abklingbecken notwendig. Dazu reicht der Platz nicht aus. Sind Aktivität und Wärmeentwicklung auf den gewünschten Wert gesunken, müssen die Brennelemente für eine Übergangszeit zwischengelagert werden, das kann innerhalb oder außerhalb der KKW erfolgen. In Deutschland sind zwei externe Zwischenlager in Betrieb, Ahaus und Gorleben, sie können jeweils rund 1.500 Tonnen ausgelagerte Brennelemente aufnehmen. Für den Transport und die Lagerung zugleich dienen Castor-Behälter, ihre 40 cm starke Wandung hält die Strahlung ab, die außen angebrachten Kühlrippen erleichtern die Wärmeabgabe. Die Stahlkolosse, mit einer Außentemperatur um 100 Grad Celsius, jeweils 80 bis 120 Tonnen schwer, können zehn Tonnen ausgediente Brennstäbe aufnehmen. Ebenso werden die aus La Hague zurückzunehmenden Glaskorillen, in denen Atommüll eingeschmolzen ist, in Castor-Behältern nach Gorleben transportiert, wo sie 30 bis 60 Jahre zwischengelagert werden und langsam abkühlen.

Hinterlassenschaft für künftige Generationen

Für die Endlagerung, d. h. die zeitlich unbefristete Beseitigung von radioaktivem Material ohne beabsichtigte Rückholbarkeit, sind die tiefen Schichten aufgelassener Salzbergwerke vorgesehen, wie Gorleben, Asse bei Wolfenbüttel, Morsleben in Sachsen-Anhalt oder die Schachtanlage Konrad. Die Brennelemente werden in einer Konditionierungsanlage zerkleinert, in Borosilikatglas eingeschmolzen, der Glasblock mit einer gasdicht verschweißten Stahlhülle umgeben und in 500 bis 1.000 Metern Tiefe auslaugebeständig gelagert. Das ganze in der Hoffnung, daß die "strahlende Hinterlassenschaft" künftige Generationen nicht gefährdet.

Vor einhundert Jahren entdeckte der Franzose Henri Becquerel die natürliche radioaktive Strahlung, mit welcher die Menschheit schon immer leben mußte. Erst mit der künstlichen Kernumwandlung trat zusätzlich eine künstliche Radioaktivität auf, deren Gefährlichkeit viele in Angst und Schrecken versetzt. Bei direkter Strahleneinwirkung auf den Organismus verändern sich die Moleküle der Körperzellen, es bilden sich Ionen und Radikale, die das Zellmedium schädigen. Allerdings verfügt der Zellmechanismus auch über Reparatur-Enzyme, die Schäden in der Erbsubstanz ausbessern können. Da die Stärke einer radioaktiven Strahlung exakt meßbar ist, können entsprechende Schutzwände davor schützen. Jede aufgetretende Strahlung tritt in Wechselwirkung mit der umgebenden Materie, sie verliert dabei je nach Art und Intensität ihre Energie und wird unwirksam.

Die biologisch wirksame Strahlendosis wird in der Einheit "Sievert" angegeben. In Deutschland liegt die jährliche natürliche Strahlenbelastung des Menschen zwischen ein bis zehn Millisievert (1 bis 10 mSv). Im Umkreis eines KKW können etwa 2 mSv hinzukommen. Bei einem Abstand von zwei Metern zu einem Castor darf die Strahlung pro Stunde 0,1 mSv nicht übersteigen. Das Röntgen beim Zahnarzt belastet mit zirka drei mSv.

Mit der Energiegewinnung aus Materie steht eine ungewöhnliche Kraftquelle zur Verfügung, die der Mensch zu beherrschen gelernt hat. Wie jede neue technische Entwicklung birgt die Kernenergie Risiken, die abgewogen werden müssen. Natürlich läßt sich die Atomenergie jederzeit durch fossile Energieträger ersetzen, die Frage ist nur, ob ein hochtechnischer Industriestaat wie Deutschland es sich leisten kann, auf die Zukunftsenergie Kernkraft zu verzichten. Die weltweit betriebenen 439 KKW werden sicher nicht aus ideologischen Gründen abgeschaltet werden, außerdem könnte das für den Wohlstand eines Landes so wichtige Humankapital einen Grund mehr finden, ins Ausland abzuwandern.


 
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