© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    23/99 04. Juni 1999


Europawahl: Die FDP kämpft für eine eigene europäische Verteidigungsidentität
"Europa braucht eine Verfassung"
Karl-Peter Gerigk

Herr Dr. Haussmann, die FDP hat keinen Regierungsbonus mehr, und die Grünen machen Ihnen liberale Positionen streitig. Wie wollen Sie den Wähler überzeugen, am 13. Juni Ihre Partei zu wählen?

Haussmann: Die wichtigsten Themen der Liberalen für den Wahlkampf – wie für die Politik danach – sind die Festigung des Euro, eine schnelle Osterweiterung und eine künftige Verfassung. Aber selbstverständlich hat die Politik der Regierung in Fragen der Steuerpolitik, der Scheinselbständigkeit und des 630 Mark-Gesetzes Auswirkungen auf die Themen im Europawahlkampf.

Die Regierung steht im Kosovokonflikt fest an den Seiten der USA. Ist jetzt nicht eine klare gemeinsame Sprache der Europäer auch in sicherheitspolitischer Hinsicht notwendig?

Haussmann: Ohne Zweifel – aber dies ist ein langer Prozeß. Bis dahin müssen wir sehr eng mit Rußland zusammenarbeiten. Hier hat sich die Bundesregierung zu zögerlich verhalten. Wir müssen auch ein sehr offenes und konstruktives Verhältnis mit den Vereinigten Staaten von Amerika pflegen. Ohne Nato-Integration wird eine rein europäische Verteidigungs- und Sicherheitspolitik noch lange auf sich warten lassen.

Sind Sie für einen Ausbau der Europäischen Verteidigungs-Union (WEU) – und wenn, wie soll das am Ende aussehen?

Haussmann: Auf jeden Fall – es bedarf einer Verteidigungsidentität der Europäer. Jedoch müssen wir, um solch ein Ziel zu erreichen, viel Überzeugungsarbeit leisten. Das gleiche gilt für die sogenannte OSZE. Das sind rein europäische Sicherheits-Institutionen, die auch einen paneuropäischen Ansatz haben. Die bisherige Sicherheitspolitik war zu einseitig auf Westeuropa konzentriert. Deutschland hat aber eine geopolitische Mittellage in Europa, und deswegen ist der Ausbau der Sicherheitsstrukturen gerade ein deutsches Anliegen.

Nach den Äußerungen der führenden westlichen Politiker und nach der Sachlage scheint eine militärische Präsenz der Nato oder der Uno zur Befriedung des Balkan unausweichlich. Bei wem soll hier die Federführung liegen?

Haussmann: Es sollte auf jeden Fall unter dem Dach der Uno stattfinden, und es müssen in jedem Fall auch russische Truppen beteiligt sein, da ansonsten eine Kooperation mit den Staaten der ehemaligen Sowjetunion schwierig werden könnte und Rußland glauben müßte, seine Sicherheitsinteressen nicht wahren zu können. Es muß eine einvernehmliche Regelung erzielt werden.

Herr Posselt , der Präsident der Paneuropaunion für Deutschland, sagte zu unserer Zeitung, man müsse die Staaten des ehemaligen Jugoslawien an Europa und die Europäische Union heranführen.

Haussmann: Das ist in jedem Fall richtig. Jeder Ansatz, der in Richtung eines Marschall-Plans geht, und die materiellen Voraussetzugen der Staaten auf dem Balken verbessert, muß befürwortet werden. Jedoch kann man nicht nur von einem MarschallPlan für den Balkan reden, sondern wichtig ist langfristig auch ein Marschall-Plan für Rußland. Ohne eine innere Stabilität in Rußland gibt es auf lange Sicht keine Sicherheit in Europa. Der Ansatz muß der sein, daß Deutschland, wie unter dem ehemaligen deutschen Außenminister Klaus Kinkel begonnen, einen Sitz im Sicherheitsrat der Uno anstrebt. Ich bedauere, daß Außenminister Fischer dieses Projekt zurückgestellt hat.

Wenn man an die Diskussion um die Demokratiedefizite in der Europäischen Union denkt und die jüngst gewachsene Bedeutung nationaler Politiken auf europäischer und internationaler Ebene in Rechnung stellt –supranationale Organisationen wie die Uno scheinen machtlos –, ist dann die Wahl zu einem Europäischen Parlaments für den Wähler überhaupt interessant?

Haussmann: Die Wahl zum Europäischen Parlament hat gerade die Funktion, das Demokratiedefizit in der Europäischen Union zu beseitigen. Sie müssen bedenken, daß das Europaparlament, unter ganz wesentlicher Mitarbeit der Liberalen, die Kommission zum Rücktritt gebracht hat und Korruption und Mißstände in der EU erst wirklich in die Diskussion getragen hat. Von der Höhe der Wahlbeteiligung hängt auch der Grad der Schlagkraft des Parlamentes ab, und ich wünsche mir, daß die Medien und Bürger dazu beitragen, das im Gegensatz zur letzten Wahl die Beteiligung kräftig ansteigt. Romano Prodi, als hoffnungsvollem, neuen Präsidenten, wäre nicht gedient mit einem schwach gewählten Parlament.

Es wird häufig die Effizienz der Behörden der EU, also die Wirtschaflichtkeit ihrer Arbeit kritisiert. Wie wollen Sie diese verbessern?

Haussmann: Zunächst braucht Herr Prodi erstklassige Kandidaten für die Kommission. Michelle Schreyer aus Berlin, die von den Grünen vorgeschlagen ist, erfüllt die Voraussetzungen nicht. Sie hat keine europäische Erfahrung und auch keine Managementerfahrung. Ein anderer Punkt ist, daß wir weniger Subventionen, aber statt dessen mehr Darlehen von seiten der EU brauchen, dann wird Mißwirtschaft und Korruption der Boden entzogen. Drittens muß das Europa-Parlament sehr viel stärker projektbezogen arbeiten und den Ministerrat kontrollieren.

Die Osterweiterung und die Freizügigkeit für die beitretenden Staaten führen billige Arbeitskräfte und Produkte nach Deutschland. Welche Wirkungen hat das auf die deutsche Volkswirtschaft?

Haussmann: Die Osterweiterung ist gerade vor dem politischen Hintergrund des Kosovo-Konfliktes geboten. Die FDP ist die einzige der deutschen Parteien im Europawahlkampf, die einen konkreten Zeitpunkt für den Beitritt Polens, nämlich 2003 nennt. Ich verstehe die Angst wegen Billigarbeitskräften, aber die Erfahrungen mit der Süderweiterung und auch die Erfahrungen vor Ort zeigen, daß die Menschen in Osteuropa nicht jahrzehntelang unter Kommunismus und Planwirtschaft ausgeharrt haben, um unter diesen Vorzeichen nun ihr Land zu verlassen. Sie wollen die Früchte der Europäischen Intergration in ihrem Land ernten. Dabei können wir, wie bei anderen Erweiterungen, mit angemessenen Übergangszeiträumen arbeiten.

Stehen wir vor einem Zielkonflikt zwischen Erweiterung und Vertiefung, zum Beispiel im Bereich der Sicherheits- und Außenpolitik?

Haussmann: Die Liberalen haben immer die Gleichzeitigkeit von Vertiefung und Erweiterung verfolgt. Man muß allerdings sehen, daß man die Erweiterung nicht zur Geißel mangelnder Vertiefung macht oder umgekehrt. Der Druck auf die Vertiefung bleibt nur bestehen, wenn wir ehrgeizige Ziele haben, was auch die Erweiterung betrifft. Wichtig ist die Parallelität von Erweiterung und Vertiefung, und nicht, daß man diese argumentativ gegeneinander ausspielt.

Die Effektivität der Europäischen Union ist zweifelhaft. Stellt sich nicht die Frage nach dem Endziel: Was wollen wir? Einen Bundesstaat, einen Staatenbund, oder einen Super-Markt?

Haussmann: Das Bundesverfassungsgericht hat uns den "Staatenverbund" anempfohlen. Das bedeutet, daß die Entwicklung der Wirtschafts- und Währungsunion auch der Weiterentwicklung der politischen Union bedarf. Das gilt es zu beachten. Dies bedeutet mehr Mehrheitsentscheidungen in diesem Bereich, eine größere Rolle für das Parlament, eine effektivere und bessere kontrollierbare Kommission. Das sind die Kernelemente der Weiterentwicklung der politischen Union und schließlich nicht zuletzt die Elemente einer Verfassung.

Wie soll eine europäische Verfassung Ihrer Meinung nach aussehen?

Haussmann: Es kommt darauf an, Verfassungselemente aus den Verträgen der EU herauszulösen und um eine Grundrechtscharta zu erweitern. Dazu muß ein Überzeugungsprozeß in den anderen Staaten der EU, geleistet werden. Der deutsche Wunsch ist verständlich, aber ohne Überzeugungsarbeit bei unseren engsten Partnern ist dieses große Ziel nicht zu ereichen.

 

Dr. Helmut Haussmann geboren am 18. Mai 1943 in Tübingen, absolvierte 1961 das Abitur in Metzingen und studierte Wirtschafts- und Sozialwissenschaften in Tübingen, Hamburg und Erlangen. Zwischen 1975 und 1980 war er Stadtrat in Urach und anschließend wirtschaftspolitischer Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion. Von 1984 bis 1988 war er FDP-Generalsekretär, danach bis 1991 Bundeswirtschaftsminister. Bis zu diesem Frühjahr war er auch stellvertretender Vorsitzender der FDP in Baden-Württemberg.


 
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