© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    22/99 28. Mai 1999


Jahrhundert der Vertreibung (V): Deutsche Flüchtlinge wurden hingehalten
Uneingelöste Versprechen
Alfred Schickel

Zehntausende strömen in hilflosen Gruppen durch die Berge. Sie ziehen zu Fuß oder auf Ochsenkarren, in die sie ihr spärliches Hab und Gut und ihre zerlumpten Kinder hineingepfercht haben. Sie werden vom Hunger gepeinigt und von der Furcht gejagt und sind ohne Hoffnung. Gewaltsam sind sie aus dem Land vertrieben worden."

Diese Sätze beschreiben nicht das aktuelle Flüchtlingselend im Kosovo, sondern stammen aus der Feder des Chefkorrespondenten der britischen Zeitung Yorkshire Post und erschienen am 12. Juni 1945 unter der Überschrift "Auszug der Sudetendeutschen aus der Tschechoslowakei". Und die Reaktionen auf diesen Bericht könnten gleichfalls aus unseren Tagen vermeldet sein. Da beschäftigten sich Parlamentarier mit diesen skandalösen Zuständen und forderten von der Regierung sofortige Abhilfe; und da fuhr ein Minister an Ort und Stelle zu einem Lager der von der Vertreibung betroffenen Bevölkerung, um sich von den Zuständen ein eigenes Bild zu machen und auf Abhilfe der festgestellten Not zu drängen.

Geistliche Würdenträger wie der Bischof von Chichester und der evangelische Propst Grüber verurteilten die Menschenvertreibung als "schwere Versündigung gegenüber Gott" und "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" – fast wörtlich wie 54 Jahre später der deutsche Außenminister Fischer über die Vorgänge auf dem Balkan.

Und was 1999 von den sichtlich betroffenen Reporterinnen in den Medien als "humanitäre Katastrophe unvorstellbaren Ausmaßes" geschildert wird, liest sich in einem Brief des Leiters des "Hilfswerkes der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg" vom 8. August 1945 so: "Gott schenke auch den Christen in aller Welt offene Ohren, die Notschreie der deutschen Menschen zu hören, die auf den Landstraßen sterben und verkommen. Was täglich an Not durch unsere Sprechstunden geht und was wir auf den Straßen und Plätzen Deutschlands sehen, ist mit Worten nicht zu beschreiben."

Der Briefschreiber, selber Verfolgter des NS-Regimes und ehemaliger KZ-Häftling, stellt fest: "Ich kenne die Leiden der Nichtarier, ich habe die Qualen des Konzentrationslagers mitgetragen, aber was sich jetzt vor unseren Augen abspielt, überschreitet in Form und Umfang alles bisher Dagewesene."

Dann schildert er: "Ich denke an die Menschen, die sich aus Verzweiflung das Leben nehmen. Tausende von Leichen spülen die Oder und Elbe ins Meer, man achtet nicht mehr darauf. Tausende von Leichen hängen in den Wäldern um Berlin, und keiner schneidet sie mehr ab. Tausende und Zehntausende sterben auf den Landstraßen vor Hunger und Entkräftung. Tausende sind getrennt von ihren Angehörigen; Kinder irren umher, die Eltern erschossen, gestorben, abhanden gekommen. Gott wird einmal die Seelen der Menschen, die in den Tod getrieben wurden, auch von uns fordern, und jeder Christ muß sich an dem Tod der Menschen mitschuldig fühlen, die in ihrer Verzweiflung keinen anderen Weg mehr sahen als den Freitod."

Und er schließt mit der Bitte "um eine neue Heimat für die Kinder, die ohne Eltern sind, für die Jugend, die keine Zukunft mehr hat, für die Menschen, deren Leben ohne Hoffnung ist".

Hilferufe, die aktuell erscheinen und zugleich altbekannt anmuten; freilich nur jenen, die die beschriebenen Schrecken des Jahres 1945/46 überlebten. Dabei müßten diese Hilferufe gerade den arrivierten Zeitgenossen unserer Tage in den Regierungsetagen und Medienzentralen zu denken geben.

Etwa darüber, wie sich die Ereignisse der Deutschen-Vertreibung in den Nachkriegsjahren heute als "humanitäre Katastrophe" wiederholen konnten; und warum man es in den zurückliegenden Jahren absichtlich unterlassen hat, sich an das Vertreibungsschicksal von Millionen Landsleuten angemessen zu erinnern und statt dessen dazu übergegangen ist, die verletzten Menschenrechte der Ost- und Sudetendeutschen hinter einem "Schlußstrich" verschwinden zu lassen.

Sich zu fragen, ob die erklärte Weigerung, sich für die Wiedergutmachungsanliegen der vertriebenen Landsleute einzusetzen, nicht ein falsches Signal für die Gegenwart war und zeitgenössische "ethnische Säuberer" in der Erwartung stärken konnte, daß Vertreibungen irgendwann als "abgeschlossene Vergangenheit" anerkannt und noch erhobene Wiedergutmachungsforderungen als "anachronistisch" bezeichnet werden – wie dies die deutschen Vertriebenen in diesen Tagen bitter erfahren mußten.

Wie ihr Schicksal schienen auch alle ihre wegweisenden Erklärungen von den nachgeborenen politisch Verantwortlichen vergessen: die "Eichstätter Adventserklärung" der Sudetendeutschen vom 30. November 1949 ebenso wie die "Charta der deutschen Heimatvertriebenen" vom 5. August 1950; ganz zu schweigen von der Denkschrift sudetendeutscher Sozialdemokraten vom 1. März 1947.

In ihr hatte der spätere SPD-Bundestagsabgeordnete Wenzel Jaksch zusammen mit seinen Gesinnungsgenossen gefordert: "Vorsorge für eine Wiedergutmachung der seit Kriegsende den Sudetendeutschen zugefügten Ungerechtigkeiten und Sicherung ihrer individuellen bürgerlichen und nationalen Rechte in ihrem Heimatland unter Aufsicht und Garantie der Vereinten Nationen."

Überzeugungstreue Postulate, deren geistige Grundlage bis zur großen Sozialisten-Konferenz von Berlin 1919 zurückreichen, auf welcher der sudetendeutsche Sozialdemokrat Josef Seliger seinen Parteifreunden und Landsleuten beispielhaft das Licht der Selbstbestimmung und der Menschenrechte entzündete.

Alles schon vergessen? Man möchte es nicht glauben.

 

Dr. Aldred Schickel ist Leiter der Zeitgeschichtlichen Forschungsstelle in Ingolstadt (ZFI)


 
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