© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    22/99 28. Mai 1999


Oper: Wagners "Götterdämmerung" in Kassel
Siegfried stirbt im Sportcoupé
Konrad Pfinke

So stirbt ein Handlungsreisender: Er sitzt im roten Sportcoupé, Kennzeichen BT-SW 911, versucht panisch zu fliehen und bekommt einen Speer in den Rücken gejagt. Eben noch war das Leben schön, die Männer vom Sicherheitsdienst lauschten seinen Erzählungen, und nun bleibt nichts als der Tod vor dem Industriegelände am Rhein.

So stirbt eine Opernfigur, wenn sie auf den Namen "Siegfried" hört, den Zyklus von "100 Jahren Deutscher Geschichte" beendet und mit der Kasseler Inszenierung der "Götterdämmerung" den "Ring" unter der Regie des Intendanten Michael Leinert abschließt. Befand sich der junge Siegfried noch im Wald der frühen Nachkriegsgesellschaft, um auf dem Walkürenfelsen die freie Liebe der Hippie-Ära zu entdecken, so haben sich die Zeitläufte merklich verändert. Nach der Wende ist eben nichts wie vorher: Da bügelt die Hausfrau das Hemd, und der Mann verläßt die Schrebergartenidylle eines Deutschland-West wie Deutschland-Ost, um ins feindliche Leben, die große, aufregende Handelsvertreter-Fahrt zu gehen. Allein er scheitert an den Unwirtlichkeiten einer neuen Euro-Zeit, für die er nicht geschaffen ist.

Geht das ambitionierte Konzept auf, das sich Leinert und sein Dramaturg Karl Gabriel von Karais erstellt haben? Auch dieses wohldurchdachte Konstrukt hat seine Tücken, scheitert partiell an den Widerborsten des Mythos, der – umgesetzt in Bilder einer Moderne des späten 20. Jahrhunderts – ein theatralisches Paradoxon bleibt. Eindringlich aber sind die Bilder, so ungelöst auch der Konflikt von archaischer Symbolwelt und technisierter Vernunft ist: Vor ihren Computern können die Nornen nur noch den endgültigen Netzzusammenbruch konstatieren, bevor der einstige "Held" Siegfried, ein Kleinbürger par excellence, mit seinem Schwert zum Gibichungenkonzern aufbricht, wo sich die rheinische Industriellenfamilie in schönster kapitalistischer Abgefeimtheit vom Chef des Wach- und Sicherheitsdienstes bewachen läßt. Hagen hat gut lachen, doch läuft man heute in Vorstandshallen mit dem Speer herum? Die Frage bleibt aktuell, aber Wagners "Ring", auch dieser "Ring", so sehr er auch die Verbindung zur deutschen Geschichte sucht und meistens findet, spielt zuallererst im Theater.

Für Leinert ist der Schlußstein der Tetralogie vor allem das Schlußstück zur Brünnhilde-Tragödie. Hier wird nichts mehr trivialisiert, dem Gelächter ausgesetzt, in der Eindeutigkeit einer deutschen Gegenwart eingeengt übrig bleibt eine Frau am Leichnam ihres toten Mannes, aufgebahrt auf dem Klavier, dem Symbol ihrer allzusüßen Liebe. Übrig bleibt die Kraft einer Frau, die nach der Katastrophe das Wesentliche, auch das Wesen ihrer Verblendung erkannt hat. Da weitet sich die Inszenierung noch einmal zum "Allgemeinmenschlichen", das selbst und gerade den durchschnittlichen Typen vom Schlage eines Nicht-Helden Siegfried, von der Art einer naiven Upper-Class-Pute namens Gutrune, eines skrupellosen wie schwächlichen Gunther und des Machttechnikers Hagen anhaftet.

Entscheidend sind jedoch in dieser "Götterdämmerung" die großen Bilder: wie Brünnhildes Trauermarsch als Triumphzug mit erbeutetem Klavier die widerstreitenden, genial auskomponierten Emotionen auf den Punkt bringt, wie der Mordplan in einer ungewöhnlich spannend arrangierten Geschäftssitzung bei einem Schluck Römerquelle beschlossen wird, wie am Ende auf allen theatralischen Schnickschnack verzichtet wird, indem Brünnhilde als Denkmal des "Ewig-Weiblichen" auf eine unerreichbare Höhe gehoben wird – all das ist von großer Spannung und von inszenatorischer Genauigkeit beseelt. Die Ratlosigkeit, die einen nach diesem "Ring"-Schluß befällt, mag eine Ratlosigkeit des Regisseurs sein – aber sie ist ehrlich, indem sie auf allen Welterlösungskitsch wie auf allen apokalyptischen Firlefanz verzichtet. Die Kunst liegt eben mitunter, gerade nach vier einfallsreichen Abenden, in der Beschränkung.

Nicht zu beschränken brauchte man sich in Kassel bei der exzellenten Besetzung: allen voran Susan Owen und Christian Franz als Brünnhilde und Siegfried, deren intonatorische Kunst unbestreitbar ist, wenn auch hier und da einmal zu sehr forciert wird. Der Hagen des Manfred Volz ist, obwohl für diese Partie nach herkömmlichen Ermessen zu wenig schwarz, nach seinem Sachs, seinem Holländer und seinem Wotan eine Besetzung von schönster Klarheit, auch von schauspielerischer Wendigkeit. Bodo Brinckmanns Gunther bewegt sich auf dem mehr als soliden Niveau seines Wotan, und Gutrune ist ausnahmsweise einmal wirklich gut besetzt mit Gertrud Ottenthal.

Bleiben die Waltraute der René Morloc und der Alberich des Klaus Wallprecht: sie ergänzen das ausgezeichnete Ensemble auf würdige Weise. Roberto Patanostro leitete das Orchester des Staatstheaters mit noblem Gestus, arbeitete die kammermusikalischen Linien klar heraus und brachte die sonore Tonsprache Richard Wagners zum dunklen Glühen. So schloß dieser "Ring", auch musikalisch, mit großem Glück.


 
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