© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    22/99 28. Mai 1999


Literatur: Vor 75 Jahren starb der Schriftsteller Franz Kafka
Ein weltferner Pessimist
Werner Olles

Franz Kafka wurde am 3. Juli 1883 in Prag als Sohn einer relativ wohlhabenden, deutschsprachigen Familie des jüdisches Mittelstandes geboren. Nach einer autoritären Erziehung studierte er von 1903 bis 1907 an der deutschen Universität in Prag zunächst Germanistik, später Jurisprudenz. Nach dem Studium trat er als Angestellter in die Arbeiterversicherungsanstalt der österreichischen Regierung ein, wo er bis zum Ende des Weltkrieges, als er an Tuberkulose erkrankte, beschäftigt war.

Kafka sah diese Tätigkeit als Kompromiß an zwischen der Forderung seiner Familie, in die väterliche Fabrik einzutreten, und dem eigenen Wunsch, sich ganz dem freien Schriftstellertum zu widmen. Schon diese Entscheidung ist als ein Symptom für Kafkas Problematik zu werten, der Kampf mit dem seelisch stärkeren Vater sollte zu einem Brennpunkt seines Gesamtwerkes werden. Ein weiterer solcher Brennpunkt ergab sich aus der Liebe zu einer Frau und der Ehe, die ihm als idealer Ausweg aus der menschlichen Entfremdung erschien.

In der Zeit seiner Verlobung mit Felice Bauer in den Jahren 1912 bis 1914 entstanden die ersten bedeutenden Schriften: "Das Urteil", "Die Verwandlung" ,"Der Heizer" (später das erste Kapitel des Romans "Amerika") und Fragmente des Romans "Der Prozeß". Nach einer Zeit der Trennung verlobte er sich erneut mit Felice, doch wiederum kam es nicht zu einer Ehe, die Kafkas Gefühl der Isolation und Einsamkeit hätte heilen können. Wesentlich wichtiger war jedoch die Verbindung mit Milena Jesenska, die der Dichter von ganzem Herzen liebte, als Zeugnis dieser Liebe sind die "Briefe an Milena" (1952) erhalten. In seinem letzten Lebensjahr lernte der Vierzigjährige die junge Dora Dymant kennen, ein Mädchen aus einem chassidischen Elternhaus. Beide verbrachten in Berlin ein euphorisch glückliches Jahr miteinander, doch die geplante Ehe kam durch die Verschlimmerung seiner Krankheit nicht zustande. Statt dessen mußte sich der Dichter in das Lungensanatorium Kierling bei Wien begeben, wo er am 3. Juni 1924 an den Spätfolgen seiner Tuberkuloseerkrankung verstarb.

Nur die wenigsten seiner Werke erschienen zu Kafkas Lebzeiten: "Das Urteil" (1913), "Die Verwandlung" (1916), "Bericht für eine Akademie" (1917) und "In der Strafkolonie" (1919). Max Brod, der Freund und Nachlaßverwalter des Dichters, hat dessen Bitte, die weiteren Manuskripte zu vernichten, zum Glück nicht entsprochen und sie später herausgegeben. Brod hatte die Bedeutung Kafkas, die in der literarischen Synthese von Realismus und Symbolik lag, schon sehr früh erkannt. Sie schien ihm tragisches Zeugnis einer unwiderruflichen Entfremdung zu sein und dennoch eine neue Anschauung der menschlichen Existenz zu begründen.

So erscheint die Wirklichkeit bei Kafka fast immer als eine unermeßliche Folge menschlicher Verstrickungen mit der äußeren Welt. Immer ist der Einzelne isoliert, und jede Beziehung zwischen Individuum und Welt zeigt nur die Vergeblichkeit des menschlichens Bemühens im Kampf mit der Außenwelt, dieser Liebe, Achtung, Würde und Vergebung abzuringen. Bei Kafka wird die Gesellschaft von bornierten und engstirnigen Beamten und Funktionären dominiert, während die hilflos-hilfsbereiten Frauen nur Verwirrung stiften. Auch die Existenz Gottes bleibt vage, zwar wird sein Wirken innerhalb der Gesetze und Verbote des Lebens letztlich doch offenbar, aber nur in einer endlos langen Reihe legaler Formen. Diese Deutung der geistigen Wirklichkeit geht vermutlich auf Kafkas spätjüdische Grundlagen zurück, hier gibt es Parallelen zu Martin Buber – in dessen Zeitschrift Der Jude der Dichter auch einige Male publizierte –, zu Pascal, vor allem aber zu Sören Kierkegaard. Viele der traumartigen Gebilde seiner Werke erinnern in ihrer symbolischen Darstellung an den ewigen Kampf zwischen Vater und Sohn. Obwohl die Welt im Ganzen als paradox erscheint, ist der scharfe Realismus Kafkas entscheidend für fast alle seiner Prosawerke.

Wahrscheinlich im Jahre 1914 entstand "Der Prozeß". Auch hier geht es um den unterbewußten Zustand im Kampf mit der Welt und der Autorität und die Suche nach dem Ursprung einer ungenannten Schuld. Joseph K. wird für ein Verbrechen verhaftet, das ihm selbst unklar ist, wobei er jedoch nicht an der Existenz des Verbrechens und der Zuständigkeit der ihn verhaftenden und verhörenden Beamten zweifelt. Höhepunkt des Romans bildet die Parabel vom Türhüter, die Kafka als Verhältnis des einzelnen Menschen zum transzendentalen Gesetz darstellt. Das letzte Kapitel, das K.s Hinrichtung schildert, unterstreicht noch einmal die Bedeutung dieser Parabel und des Doppelbildes des unterbewußten und des bewußten, spirituellen Menschen.

Am ersten Kapitel seines Romans "Amerika" begann Kafka bereits 1912 zu arbeiten, veröffentlicht wurde er erst drei Jahre nach seinem Tode. Auch hier wird der Weg zu Authentizität und Freiheit im jüdischen Wunsch nach der "neuen Welt" des neuen Testaments, aber auch die Bitterkeit der jüdischen Suche nach Gleichbehandlung in der christlichen Welt sichtbar. Am Ende muß der Held seine menschliche Existenz opfern, was Kafka allerdings nicht zu einer Kritik des sozialen Lebens oder zur Zeitkritik benutzt, sondern zu einer religiös-philosophischen Kritik der menschlichen Existenz.

Das Verhältnis des Dichters zur Kabbalah und zum Talmud war zeitlebens zwiespältig, für systematische Talmud-Studien reichte seine Kenntnis des Hebräischen jedoch ohnehin nicht aus. Die Assimilation der westeuropäischen Juden hat ihn hingegen stark beschäftigt, die Tendenzen zur jüdischen Selbstaufgabe kritisierte er vehement.

"Das Schloß" war sein letztes großes, fragmentarisches Werk. 1921/22 verfaßt, wurde es als entweder psychoanalytische oder religiöse Allegorie gelesen. Der Held ist ein Landvermesser, der beim Schloßherrn, dem Grafen West-West, zugelassen werden möchte, um die Arbeit des "Vermessens" zu beginnen. Das Schloß ist dabei jener mystische Bau, in dem der Mensch nach Erfüllung sucht, ein Labyrinth, dessen verschiedene Gänge kreisförmig um das Dorf herumführen, in dem K. wartet, um doch niemals in das Schloß zu gelangen. Auch von den Frauen im Schloß ist keine Hilfe zu erwarten, sie verführen nur zur Hingabe an das Chaos, ihre vermeintliche Hilfe ist reine Illusion, während sie selbst dem Grafen und seinen Beamten ausgeliefert sind.

Auch hier steht das Dorf für die Welt, das Leben und die menschliche Gesellschaft, während das Schloß die Verheißung und den Traum der Transzendenz charakterisiert. Ob die Figur des Schloßherrn Gott oder letztlich den Tod bedeutet, ist nicht ganz klar, immerhin kennt man von ihm bis zum Schluß nur seinen Namen. Am Ende wird K. der ständige Aufenthalt im Dorf gestattet, alledings erst in dem Augenblick, in dem er im Sterben liegt. Er stirbt so als ein nach Verheißung suchender Mensch innerhalb des Kreises, nichts als die Erlaubnis in Händen, auch weiterhin hier bleiben zu dürfen.

"Das Schloß" war für die meisten Kritiker zuallererst eine Demonstration des Absurden. Neben dieser rein philosophischen gab es aber auch eine theologische Auslegung, die eine positive Wendung darin sah, daß der Held seiner Verheißung zumindest näherkommt, und die damit an die christliche Idee des Opfertodes erinnerte.

Kafka, nach eigener Aussage der westjüdischste aller westjüdischen Schriftsteller, war ein pessimistischer Dichter, der das Leben düster darstellte und den Menschen als unfrei in seinem Denken, Handeln und Verhalten charakterisierte. Er war weltfern in dem Sinne, daß er das seelenlose Antlitz des 20. Jahrhunderts und die elenden Nöte des Menschen in seine Untersuchungen einbezog und schließlich zu dem Schluß kam, daß man die Linie, die um einen herum gezogen wurde, nicht überschreiten kann. Kein Wunder, daß er den linken Intellektuellen als Erzfeind des Sozialismus galt, mit dem eigentlich die Konterrevolution im Ostblock begonnen habe. Inzwischen laufen nicht nur in Prag junge Leute mit Kafka-T-Shirts herum und ehren damit auf ihre Art einen Schriftsteller, der einmal gesagt hat: "Es gibt ein Ziel, aber keinen Weg, was wir Weg nennen, ist Zögern."


 
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