© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    22/99 28. Mai 1999


Völkerrecht: Der Salzburger Universitätsprofessor Michael Geistlinger über die Lehren aus dem Jugoslawien-Krieg
"Die Auflösung der Nato scheint geboten"
Helmut Müller

Herr Professor Geistlinger, wir erleben gegenwärtig weltweit eine Zunahme von Autonomiebestrebungen, diesen stehen aber neue zentralistische Strukturen gegenüber. Sind erstere eine Antwort auf letztere?

Geistlinger: Zentralistische Strukturen provozieren in der Tat Bestrebungen nach Autonomie oder gänzlicher Abtrennung derjenigen, die durch die zentralistische Herrschaftsgestaltung von ihren politischen Selbstverwirklichungsmöglichkeiten abgeschnitten werden. Diese zugleich historische wie aktuelle Erfahrung steht hinter dem Zusammenbruch der ehemaligen Kolonialreiche, der früheren Sowjetunion, des alten Jugoslawien, liegt der Kurdenfrage und zahlreichen in der Art gleichgelagerten Problemen zugrunde und ist nicht auf staatliche Herrschaft beschränkt, sondern gilt auch für internationale Organisationen. Selbst ein militärisches Bündnis wie die Nato ist davor nicht gefeit, wenn man an das rasche Ende ihres früheren Widerparts, des Warschauer Paktes, denkt.

Wird die Europäische Union den Interessen der europäischen Völker und Volksgruppen inzwischen gerecht oder droht ein Superstaat?

Geistlinger: Die Interessen der europäischen Völker und Volksgruppen, Minderheiten- und Volksgruppenschutz, sind in der EU eine gänzliche Randfrage. Es gibt nur wenige Initiativen, die diesen Fragen gewidmet sind. Keine dieser Initiativen hat bislang in Richtlinien oder Verordnungen geendet. Die EU befindet sich vielmehr in einem Prozeß des Aufbaus eines der Führungsstruktur von Konzernen vergleichbaren Regierungs- und Herrschaftssystems, das auf lange Frist gesehen tatsächlich in Richtung eines zentralistischen Superstaates zielt. Dem EU- Parlament wird nach allen derzeit in Diskussion befindlichen Änderungsvorschlägen auch auf Sicht einer Generation hin nicht die Macht zukommen, die den Parlamenten vergleichbarer Einheiten mit staatlicher Struktur (z.B. USA) übertragen ist. Die im Amsterdamer Vertrag und in zukünftigen Vorhaben zum Ausdruck kommenden Bemühungen, weitere staatliche Kompetenzbereiche nach Brüssel zu ziehen, und gleichzeitig die Zahl der Materien, in denen auf Ratsebene Beschlüsse mit Einstimmigkeit aller Mitglieder gefaßt werden müssen, zugunsten von Beschlüssen zu verringern, in denen die qualifizierte oder einfache Mehrheit zur Beschlußfassung ausreicht, beschneidet das politische Gewicht kleiner Staaten und damit auch kleiner Völker zugunsten der großen innerhalb Europas.

Wird der Nationalstaat überwunden und ein nach Regionen und Regionalkulturen gegliedertes Europa entstehen?

Geistlinger: Die Bemühungen der Europäischen Union zielen in die Richtung eines nach Regionen und Regionalkulturen gegliederten Europas. Dem steht allerdings die historische und politische Erfahrung der Gegenwart gegenüber, daß nicht nur in Europa, sondern auch darüber hinaus – zum Beispiel in Kanada und China – freie politische Willensbildung, die auf Bildung staatlicher Einheiten zielt, entlang nationaler Identität und einem entsprechenden Bewußtsein verläuft. Diese Erfahrung haben über die Geschichte hinweg Großreiche nur durch entsprechend diktatorische, autoritäre oder totalitäre Regierungsformen überdecken können. Die Sowjetunion ist dafür ein markantes Beispiel. Schon heute sind dem Verhalten der Brüsseler Bürokratie gegenüber den Bürokratien der Mitgliedstaaten der Europäischen Union Parallelen abzugewinnen, die an die Sowjetherrschaft erinnern.

Könnte dem Zerfall Jugoslawiens ein solcher Großbritanniens und eines Tages gar jener Frankreichs folgen?

Geistlinger: Kein Staat auf der Erde ist vor einem Zerfall gefeit, das zeigt die Geschichte. Entscheidend für einen dauerhaften Bestand von Staaten scheint die Balance zu sein, die in einem System von "checks and balances" zwischen unterschiedlichen politischen Meinungen, und in Staaten, in denen mehrere Völker leben, zwischen deren unterschiedlichen Interessen und Anschauungen gefunden wird. Terror auf der einen Seite und Autoritarismus auf der anderen Seite sind als Krisenzeichen zu sehen und bedeuten, daß die Balance verlorengegangen ist. Insoweit stellen beispielsweise die Baskenfrage und die Frage Korsikas für Frankreich ein Problem dar, in dem die französische Regierung die friedliche Mitte eines kompromißhaften und -fähigen politischen Ausgleiches verloren hat. Großbritannien hat diese Mitte in der Nordirlandfrage schon seit Jahrzehnten verloren und ist im Augenblick von Schottland gefordert.

Sehen Sie in der Kosovo-Frage einen Zusammenhang mit den völkerrechtswidrigen Vertreibungen der Deutschen?

Geistlinger: Alle Vertreibungen sind völkerrechtswidrig, insofern sie mit dem Menschenrecht auf Freizügigkeit, in dessen Kern das Recht auf Verbleib in seiner Heimat anzusiedeln ist, unvereinbar sind. Insofern besteht in völkerrechtlicher Hinsicht eine klare Parallele zwischen den Vertreibungen im Kosovo und jenen der Deutschen aus Ost- und Südosteuropa am Ende des Zweiten Weltkrieges. Es scheint aber auch, daß auch auf politischer Ebene im gegenwärtigen Konflikt besondere Animositäten zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Bundesrepublik Jugoslawien auf beiden Seiten historische Wurzeln haben.

Welche Lehren können wir, was den Kosovo-Konflikt betrifft, aus völkerrechtlicher Sicht ziehen?

Geistlinger: Folgende Lehren aus völkerrechtlicher Sicht erscheinen mir primär:

a) Der Schutz der Menschenrechte ist eine internationale Angelegenheit. Staaten und Regierungen, die die Menschenrechte verletzen, können sich nicht auf ihren vorbehaltenen Wirkungsbereich berufen. Alle Staaten unterliegen einer internationalen Kontrolle und völkerrechtlicher Verantwortlichkeit für Menschenrechtsverletzungen.

b) Der Einsatz von bewaffneter Gewalt ist ein untaugliches Mittel zur Behebung und Verhinderung von Menschenrechtsverletzungen. Bewaffnete Gewalt verletzt selbst Menschenrechte, sie inkludiert Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung, die offensichtlich auch auf dem höchsten Stand militärischer Technologie nicht ausgeschlossen werden können.

c) Die Behauptung der Nato-Staaten, es gebe eine klinisch saubere Kriegführung, die Kriegsverbrechen ausschließe, wurde von den Nato-Staaten selbst in der Realität als unrichtig nachgewiesen.

d) Nato-Recht und Recht der Vereinten Nationen und damit universelles Völkerrecht sind miteinander unvereinbar. Der Versuch der Nato, universelles Völkerrecht mit Gewalt und damit revolutionär zu ändern, indem sie einen vor dem Hintergrund der Staatenverantwortlichkeit nicht mit übergesetzlichem Notstand oder kollektiver Selbstverteidigung zu rechtfertigenden Aggressionskrieg ohne Ermächtigung durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen entfacht hat, muß als gescheitert angesehen werden. Vor dem Hintergrund des universellen Völkerrechts scheint die Auflösung der Nato ein Gebot der Stunde.

e) Das Recht auf Selbstbestimmung ist seiner Natur nach grenzenlos, es kann nicht mit staatlicher Gewalt auf ein inneres Selbstbestimmungsrecht reduziert werden. Die einzige Chance für einen Verbleib des Kosovo bei der Bunderepublik Jugoslawien liegt in selbstbestimmungsrechtskonformer Herrschaftsverteilung in der Bundesrepublik Jugoslawien. Dies inkludiert die Abgabe von echter politischer Macht an das Kosovo und die Findung eines Systems von "checks and balances" in einem Kompromiß zwischen serbischer und albanischer Seite. Kompromiß bedeutet die friedliche Suche nach der politischen Mitte zwischen den Forderungen und Positionen beider Parteien durch diese selbst.

 

Prof. Dr. Michael Geistlinger, 1956 in Radstadt (Österreich) geboren, studierte in Salzburg Jura, Slawistik und Romanistik. Seit 1991 Lehrauftrag für Völkerrecht, Verfassungs- und Verwaltungsrecht und Ostrecht an der Universität Salzburg, seit 1997 außerordentlicher Professor am Institut für Völkerrecht der Universität Salzburg, Mitherausgeber der Zeitschrift "Europa Ethnica", seit 1994 Verfassungsexperte der UN/OSZE im Konflikt Georgien/Abchasien.


 
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