© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    22/99 28. Mai 1999


Irak: Seit mehr als acht Jahren lebt das Volk unter den Bedingungen eines Embargos
Ein T-Shirt für einen Monatslohn
Gregor M. Manousakis

Vom jordanischen Amman bis Bagdad dauert die Fahrt um die zehn Stunden; wegen des Embargos darf kein Flugzeug im Irak landen. Ab Trebil, der Grenzstation zwischen Jordanien und Irak, gibt es über 700 Kilometer eine zweispurige Autobahn europäischer Qualität. Die Steppe ist öde und endlos. Grün wird es erst in der Nähe des Euphrat, der etwa 100 Kilometer vor Bagdad lebensspendend dahinfließt.

Bagdad ist längst nicht mehr die Stadt aus 1001 Nacht, sondern eine riesige, moderne, grüne Hauptstadt mit 1001 großen, architektonisch interessanten Gebäuden und breiten Straßen. Die Architekten sparen offenbar nicht mit dem Raum, davon zeugt die großzügige Bauweise der Stadt.

Die Folgen des seit über acht Jahren bestehenden Embargos sind schon auf den ersten Blick in der Stadt erkennbar. Etwa 50 Prozent aller PKWs sind mehrfarbig, denn Teile der Karosserie sind von ausrangierten Wagen des gleichen Typs ausgewechselt worden. Ein Zeichen der fehlenden Ersatzteile sind auch die vielen stehenbleibenden Autos. Auch Passanten stecken den Kopf unter geöffnete Motorhauben; es wird beraten und herumhantiert. Endlich fährt der Wagen oder er wird mit vereinten Kräften geschoben.

Selbst in den Prachthotels spürt man das Embargo. Alles ist peinlich sauber und ordentlich. Doch der frühere Glanz der Hotels ist verblaßt; hier fehlt ein wenig Farbe, dort eine Schraube, der Wasserhahn tropft langsam vor sich hin und die Sesselgarnitur ist leicht abgewetzt. Eigentlich bieten die Geschäfte alles an. Auffallend sind die vielen amerikanischen und britischen Produkte, die wohl von den arabischen Emiraten mit kleinen Booten geschmuggelt werden. Die Preise sind zwar für westliche Taschen eher niedrig, mit irakischem Geld sind sie dagegen exorbitant. Ein Dollar wird offiziell mit 2.000 Denar gewechselt, anstatt 1:3 vor dem Embargo. Der offizielle Kurs ist höher als der der Devisenhändler. Sie bieten höchstens 1:1800 an oder auch weniger.

Der Wechselkurs der DM ist niedrig. Offiziell wird sie mit 1.040 Denar gewechselt, also um den Gegenwert von etwa einem halben Dollar. Ähnlich ist es auch mit der DM in Jordanien. Wohl sind die Währungen des Nahen Ostens nicht konvertibel, und die dortigen Zentralbanken können den Wert der eigenen gegenüber anderen Währungen nach Belieben festsetzen. Doch der DM-Wert wird in den internationalen Börsen festgesetzt, wo auch die Banken des Nahen Ostens Zugang haben. Als Folge der Unterbewertung der DM zirkuliert im Irak der Dollar als Parallelwährung .

Das durchschnittliche Monatsgehalt übersteigt kaum die 5.000 Denar. Beamte erhalten eine Monatsrente von 250 Denar. Ein T-Shirt kostet mindestens 5.000 Denar. Die Kleidung ist in der Regel ärmlich, zerlumpt sind die Leute aber nicht. Auf der Straße und in den Lobbys der Hotels trifft man elegant angezogene Männer und Frauen – letztere meistens ohne Schleier. Das dürfte nicht darüber hinwegtäuschen, daß das Embargo dem Volk schwer zusetzt. Jeder Bewohner des Irak erhält vom Staat monatlich reichlich Nahrungsmittel, darunter Mehl, Speiseöl, Hülsenfrüchte, Reis, Teigwaren, Tee, Zucker. Nur Fleisch, Eier und Milch werden knapp verteilt, dafür ist aber das Angebot in den Geschäften reichlich. Allerdings kostet Fleisch guter Qualität um die 4.000 Denar je Kilogramm, nicht für alle erschwinglich.

Beklemmung tritt auch vor den roten Verkehrsampeln ein. Eine Schar von bettelnden Kindern macht den Fremden schnell aus. Mit 250 Denar sind beide zufrieden, für die Kinder genug, für den Spender wenig; erst später merkt er, daß es zuviele Kinder sind und das Wenige viel wird.

Das Embargo wurde Anfang 1991 verhängt. Grund dafür war die Befürchtung, daß der Irak Massenvernichtungswaffen produziere, mit denen er seine Nachbarn bis zu Israel hin bedrohen könnte. Der Irak hatte in der Tat Anfang der 80er Jahre chemische Waffen gegen die Kurden im Norden ebenso eingesetzt wie gegen Iraner im irakisch-iranischen Krieg. Verletzte iranische Soldaten wurden in Deutschland behandelt.

Heute hat das Embargo nur noch ein Ziel: Die Empörung des leidenden Volkes gegen Saddam Hussein zu schüren. Wer sich das auch immer ausgedacht hat, hatte nie ein Geschichtsbuch in der Hand. Andernfalls müßte er sich fragen, wieso es früher Städtebelagerungen gegeben hat. Nach seiner Logik müßte die Bevölkerung belagerter Städte binnen einiger Tage die eigene Führung niedermetzeln und dem Eroberer die Tore öffnen. Dieser Effekt ist aber kaum jemals erzielt worden, auch als anstatt Belagerung Städte mit Bombenteppichen belegt wurden. Auch sie dienten angeblich dem Ziel, das bombardierte Volk gegen seinen Diktator aufzubringen. In Jugoslawien versucht die Nato heute das Gleiche.

Die Blockade sollte die Menschen aufbringen

Das irakische Volk reagiert auf die Leiden durch das Embargos und die Bombardierungen, indem es sich so verhält, wie jedes Volk in der Geschichte sich in einer vergleichbaren Lage. Es empfindet das Embargo als Aggression und schart sich um seine Führung, um Saddam Hussein. Jeder Iraki, der ins Gespräch mit einem Fremden kommt, bekundet es. Wohl kann es sich dabei auch um oktroyierte Pflichtübungen handeln. Jedoch nicht immer; anderenfalls müßten haufenweise Oscars an die Irakis ob ihrer schauspielerischen Talente verteilt werden. "Was will man mit dem Embargo? Wohl nur unser Öl. Alles andere ist nur Propaganda. In Saudi-Arabien und Kuweit haben die Amerikaner das Sagen. Sie haben trotzdem keine Demokratie bekommen. Statt dessen sind inzwischen diese reichen Länder bankrott; so groß ist der Geldtransfer von dort nach den USA; das wollen wir nicht, lieber das Embargo!" Das ist ebenso wenig gestellt wie die Frage der deutschsprechenden Dame: "Was wird aus dem Irak ohne Saddam Hussein? Nach wie vor will Teheran seine islamische Revolution exportieren; ein Teil der Schiiten Iraks will auch bei uns eine islamische Republik erzwingen. Ohne Saddam Hussein wird hier ein Bürgerkrieg ausbrechen. Wieso sieht es Europa anders?"

Der Pfarrer redet ähnlich. "Durch das Embargo wird das Christentum in der gesamten arabischen Welt diskreditiert. Wie kann ich von christlicher Nächstenliebe und christlichem Humanismus reden? Es wirkt hier jetzt so hohl. Kleine Kinder sterben, weil Arzneimittel gegen die Diarrhöe fehlen."

Seit Anfang des Jahres und der zugebilligten Erhöhung der Exporte irakischen Öls hat sich die Ernährungslage des Volkes verbessert; allerdings gelangen nach Regierungsangaben nur zehn Prozent des Erlöses aus dem Verkauf des irakischen Öls durch die UNO in den Irak in Form von Lebensmitteln und Medikamenten zurück.

Mit dem Rest werden die Kosten der UNSCOM, die um die 3.000 Spezialisten beschäftigt, gedeckt oder als Entschädigungen an Kuweit und ehemalige ägyptische Gastarbeiter im Irak und Kuweit abgeführt. Regierungsstellen in Bagdad behaupten zudem, daß oft Medikamente und Lebensmittel, die durch die Prozeduren der UNO gehen, nicht abgenommen werden, weil ihr Haltbarkeitsdatum verfallen sei.

Erdrückend ist die Atmosphäre im Kinderkrankenhaus in Bagdad. Dahinsiechende krebskranke Kinder ohne ausreichende Medikamentenversorgung. Im Krankenhaus werden täglich 1.000 bis 1.200 Kinder untersucht. Der bei irakischen Kindern weit verbreitete Krebs – die Rate liegt etwa 8.000 Prozent höher als vor der Operation "Wüstensturm" – sei eine Folge der während des Golfkrieges gegen den Irak verwendeten Geschosse und Bomben, die mit abgereichertem Uran versehen waren. Das Krankenhaus wird wohl eine erfahrungsreiche Lehrstelle für Kinderärzte aus Südosteuropa nach dem Krieg der Nato gegen Jugoslawien werden.

Der Irak ist zwar um die Aufhebung des Embargos bemüht. Doch die Araber sind kaum in der Lage, in der Weltöffentlichkeit ihren politischen Standpunkt zu verbreiten. Sie selbst erklären diese Unfähigkeit mit der angeblichen zionistischen Unterwanderung der Weltpresse. Daß ausländische Journalisten in allen arabischen Ländern unendliche Schwierigkeiten haben, Informationen zu bekommen, übersehen sie.

Um die Folgen des Embargos zu zeigen und es zu verurteilen, hat Bagdad Ende April eine internationale Konferenz einberufen, an der rund 300 Personen teilnahmen. Aus Europa kamen sehr viele Russen, aber auch Franzosen, Italiener, Spanier, sogar Briten. Auch Amerikaner waren zugegen. Mit Ausnahme der Russen vertraten alle anderen bestenfalls kleine Randgruppen; keine Parteien und keine sonstigen Organisationen. Zahlreich waren aber auch die Asiaten und die Araber. Es versteht sich daher von selbst, daß alle Teilnehmer sich gegen das Embargo geäußert haben. Beeindruckend war nur das Selbstbewußtsein der Russen. Sie verurteilten nicht nur das Embargo, sondern auch die USA, die auf dessen Fortsetzung bestehen. Erschreckend war aber das Ausmaß des Antisemitismus, das in dieser Konferenz zutage gelegt wurde. Die Zionisten seien an allem schuld, Clinton und Blair seien nur deren "Marionetten" – Ansichten, die selbst von den anwesenden Amerikanern und Briten unterstrichen wurden.

Im Irak gibt es etwa zwei Millionen Christen, meistens Katholiken. Gleichwohl sind alle Kirchen vertreten; "schon immer – die irakischen Kirchen gehören zu den ältesten der Christenheit", sagt stolz der syrisch-orthodoxe, dem Vatikan unterordnete Monsignore Rafael. "Die Kirchen im Irak sind frei", fügt er hinzu. Der Gast hat keine Schwierigkeiten, es wörtlich zu nehmen. Ein Kirchengebäude im Irak steht nie allein da; Kirche, Pfarramt, Wohnung des Pfarrers, Empfangshäuser mit großen Sälen, sonstige Hilfsgebäude, zuweilen Kindergärten, besetzen ganze Straßenseiten.

Der christliche Glaube hat mehr Einfluß gewonnen

In den Ministerien trifft man immer wieder Beamte, die sich ebenso offen zum Christentum bekennen wie die katholische Frau, die stolz ihr an einer Halskette hängendes Kreuz zeigt. Das wäre etwa in Saudi-Arabien gar gefährlich. Pater Lukas von der griechisch-orthodoxen Kirche erzählt, daß er während des letzten Ramadans ein muslimisches Festessen in den Empfangsräumen seiner Kirche nach Sonnenuntergang gegeben habe. "Es kamen sehr viele Persönlichkeiten, auch drei Minister", sagt er. "Wir haben hier keine Probleme. Nur wegen des Embargos schämen wir uns als Christen."


 
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