© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    22/99 28. Mai 1999


Europa der Regionen: Für flämische Kinder ist die französischsprachige Wallonie schlicht Ausland
Belgien steht vor einer Zerreißprobe
Patrick Verleden

Der 13. Juni ist für Belgien nicht nur der Wahltag zum Europaparlament, sondern auch zum Nationalrat, dem belgischen Parlament. Aber wie würde man in England oder Deutschland vor der Wahl reagieren, wenn der Chefredakteur einer renomierten Tageszeitung, wie es De Standaart für Belgien ist, ein Auseinanderbrechen des Staates prognostizierte. Und das nicht in einem Leitartikel, sondern im Kern der Aussage seines neuen Buches.

Das Buch von Dirk Achten "Achter Belgien" (Was kommt nach Belgien) trifft die Diskussion im Staate, denn einerseits wird die mafiöse Verflechtung von organisierter Kriminalität und Verwaltung mit Monarchie und Logenwirtschaft kritisiert, andererseits prallen die Unabhänigkeitsbewegungen der Flamen und Wallonen immer noch aufeinander. Dirk Achten plädiert für zwei unabhänige Regionen: Flamen im Norden und Wallonien im Süden. Dies sind keine seszessionistischen Spinnereien, sondern historisch, in Monarchie und Volk begründete Forderungen.

Wenige Regionen Europas haben so oft die Besitzer und Besetzer gewechselt, wie jenes Gebiet, das sich heute Belgien nennt. Von Anfang der Zeitrechnung bis zur Staatsgründung Belgiens im Jahre 1830 rollten nacheinander Römer, Franken und Sachsen, Franzosen, Burgunder, Österreicher, Spanier, noch einmal die Österreicher und die Franzosen und zum Schluß die Niederländer über einen Landstrich hinweg, dessen Bevölkerung schon deshalb stets pragmatisch und zäh zwischen Extremen schwankte: zwischen schweigender Unterwürfigkeit und Selbstbewußtsein, zwischen bäuerlicher Armut und bürgerlichem Reichtum, zwischen dumpfem Analphabetismus und einer blühenden Kultur.

Der Staat versuchte das Flämische auszulöschen

Immer wieder wurde dieses kleine Dreieck zwischen den Großmächten zum Schlachtfeld. Erst Anfang dieses Jahrhunderts begann diese Region Europas ihre heutigen Konturen zu finden und wuchs das Bewußtsein der Flamen. Von Anfang an versuchte der neue belgische Staat das niederländische Element endgültig auszulöschen und dies in bester französisch-jakobinischer Tradition. Vielleicht erklärt dies alles die Zähigkeit, mit der die sechs Millionen Flamen in Belgien bis jetzt mal geduldig, mal heftig – aber immer friedlich – für ihre Identität weiterkämpfen, selbst wenn die Nachbarn immer wieder die Querelen um den Sprachgebrauch in der Hauptstadt Brüssel und in den Brüsseler Randgemeinden als schlichten Sprachstreit abtun und ihn kopfschüttelnd als kleinkariert empfinden.

Im fünften Jahrhundert nach Christus eroberten die Friesen, Sachsen – aber vor allem die Franken dieses Gebiet und brachten ihre gemanischen Sprachen mit. Der seit Cäsar romanisierte bevölkerungteil zog sich zurück. Erst 1962 wurde eine Sprachgrenze quer durch Belgien definiert. Im sechsten Jahrhundert nach Christuentwickelten sich aus den Eroberungen Chlodwigs I. ein teils romanisches, teils germanisches Reich, das von der Nordsee bis Thüringen reichte und dessen letzter mächtiger Herrscher Karl der Große war. Nach dessen Tod wird das Fränkische Reich mit dem Vertrag von Verdun 843 erst dreigeteilt, um schließlich mit dem Vertrag von Meersen 870 zweigeteilt zu werden, und zwar in ein Westfränkisches Frank(en)reich und ein Ostfränkisches Reich, das Heilige Römische Reich. Ab 880 bis zum Ende des Mittelalters verläuft die Grenze der Grafschaft Flandern entlang der Schelde.Die Grafschaft Flandern gehörte damals zu Frankreich und das Herzogtum Brabant zu Deutschland. Dank eines wirtschaftlichen und kulturellen Aufschwungs im 12. und 13. Jahrhundert konnten sich Flandern und Brabant immer mehr Freiheiten herausnehmen. Vor allem das blühende Tuchgewerbe Flanderns und die günstige Lage Brabants als Handelsnation ließen mächtige Städte aufblühen, deren Kirchen und Belfriede bis heute von der Macht der Bürger und der Kirche Zeugnis ablegen. Auch die vielen Beginenhöfe und die bürgerliche Gotik entstanden in diesem Zeitraum.

Die Sprache der Elite war aber das Französische, der Hof zu Brügge ein treuer Vasall Frankreichs. 1302 kam es zum Aufstand der freiheitsliebenden Zünfte gegen den französischen König Philipp den Schönen. Vor Kortrijk traf das mächtige, aber arrogante französische Ritterheer auf die verbissenen flandrischen Fußtruppen im Sumpfgelände am Groeningerbach. Die "Goldensporenschlacht" endete mit einer füchterlichen Niederlage des französischen Adels und sicherte die städtischen Freiheiten der Grafschaft. 1288 hatte Herzog Jan I. die Ostgrenze Brabants erfolgreich durch die Annexion Limburgs in der Schlacht von Woeringen gegen den Erzbischof von Lüttich verteidigt.Die Bedeutung der "Goldensporenschlacht" wurde 1838 durch den Schriftsteller Hendrik Conscience im romantisch-nationalistischen "De Leeuw van Vlaanderen" im Bewußtsein der Flamen verewigt und hat nicht wenig zum Mythos der flämischen Identität beigetragen. Dieser Sieg im Jahre 1302 über das Französische (die Sprache der Herrschenden und ihre Ideologie) wird im Jahre 2002 dann auch ausgiebig von Flandern gefeiert werden. Genau wie die Schweizer 1991 das 700jährige Bestehen der Eidgenossenschaft feierten.

Belgien war Spielball der Habsburger Monarchien

Im Jahre 1384 fielen die Grafschaft Flandern und später auch das Herzogtum Brabant durch die Heirat der letzten flandrischen Grafentochter Margaretha von Male mit dem Burgunder Philipp dem Kühnen an dessen Großreich. Philipps Ur-Urenkelin Maria von Burgund heiratete jedoch 1479 Maximilian von Habsburg, und schon wieder wendete sich das Blatt: Flandern, Brabant und Limburg werden österreichische Lehen. Drei Jahre später stirbt Maria von Burgund blutjung nach einem Reitunfall. Ihr Sohn Philipp der Schöne heiratet Johanne "die Wahnsinnige" von Kastilien, und in Gent wird 1500 der gemeinsame Sohn Karl geboren, der spätere Kaiser Karl V. Karl erbt erst Kastilien, später Aragon und fühlt sich schnell als Spanier, weshalb er 1520 Spanien und die Niederlande zusammenfügt. Vor allem sein Sohn Philipp II. will einen straff organisierten ultrakatholischen Staat in einem Augenblick, wo die Reformation in den spanischen Niederlanden als positiv und befreiend erfahren wird.

Die Calvinisten wüteten im katholischen Flandern

1566 rast der calvinistische Bildersturm durch Flandern. In drei Monaten werden 300 Jahre Kultur vernichtet. Die Rache der Spanier ist fürchterlich: sie schicken Herzog von Alva nach Flandern, der dort alles niedermetzelt, was sich der spanischen Krone in irgendeiner Form widersetzt. In Brüssel werden 1568 die Grafen Egmont und Hoorn öffentlich enthauptet. Danach herrscht Ruhe im Land, denn die protestantische Intelligenz flüchtet in die vomTerror verschonten nördlichen Provinzen. In Flandern bleiben die Armen, die Bauern, die Ungebildeten zurück. Nur die Künste erreichen mit Rubens, Van Dyck und Jordaens noch einmal eine Blüte – schließlich gibt es genug verwüstete Kirchen neu auszustatten. Aber es ist eine Herbstblüte. Im Westfälischen Frieden 1648 wird besiegelt, was sowieso schon Realität ist: Die nördlichen Niederlande werden ein eigenständiger Staat. Die südlichen, spanischen hingegen degenerieren zum Kriegsschauplatz: Ludwig der XIV. will sie Frankreich einverleiben, und Brüssel wird bombardiert. Diesem Bombardement hat man den einheitlichen wiederaufgebauten Großen Markt von Brüssel zu verdanken. Erst der Friede von Utrecht im Jahre 1713 beendet den Spanischen Erbfolgekrieg. Die südlichen Niederlande fallen an die österreichische Linie des Hauses Habsburg. Nunmehr wird Flandern zuerst von Maria Theresia und anschließend von Joseph II. regiert.

1794 marschieren die französischen Revolutionstruppen in die österreichischen Niederlande ein. Flandern wird Teil der Republik Frankreich und innerhalb kürzester Zeit vollkommen französisiert. Nun überstürzen sich die Ereignisse: mit der Niederlage Napoleons bei Waterloo bricht dessen Reich zusammen. Der Wiener Kongreß 1815 vereint die nördlichen und die südlichen Niederlande zum Königreich der Vereinigten Niederlande, einem Teil des cordon sanitaire rings um das unruhige Frankreich. Diese Zwangsehe zwischen sich wenig liebenden Partnern ist aber von vornherein zum Scheitern verurteilt.

Der autoritäre Wilhelm I. der Niederlande macht folgenschwere Fehler. So verbietet er 1823 den Gebrauch des Französischen in ganz Flandern. Damit bringt er die frankophone belgische Oberschicht gründlich gegen sich auf. 1830 bricht unter ihrer Leitung und mit französischer Hilfe in Brüssel ein Aufstand aus. Im gleichen Jahr wird Belgien unabhängig. Es entsteht ein wirtschaftlich und kulturell durch die französische Oberschicht dominierter Staat, in dem die flämische Bevölkerung nichts zu sagen hat. Zwischen 1835 und 1885 erlebt Flandern eine Mißernte und Hungersnot nach der anderen. Obwohl kaum fünf Prozent der Flamen Französisch sprechen, sind die Administration, die Gerichtsbarkeit und das Unterrichtswesen bis auf die Volksschulen französischsprachig. Das Volk bleibt ungebildet, arm und ohnmächtig. Dazu trägt nicht wenig der Klerus bei, der in keinster Weise daran interessiert ist, dem Volk zu Wissen zu verhelfen. Das kann die Emanzipationsbestrebungen eines Teils der Bevölkerung jedoch nicht unterdrücken.

Flämische Bewegung nicht erst seit 19. Jahrhundert

Um 1890 formiert sich die flämische Bewegung. Bauern und Arbeitern organisieren sich: der Bauernbund, eine Genossenschaftsbank und eine Gewerkschaft werden gegründet. An Schlagkraft gewinnt die flämische Bewegung durch den Ersten Weltkrieg, der vor allem unter den gemeinen flämischen Soldaten einen grausamen Blutzoll fordert, nicht zuletzt deshalb, weil sie oft die französischen Befehle überhaupt nicht verstehen. Nun verlangen flämische Protagonisten die Anerkennung des Niederländischen als Unterrichts- und Verwaltungssprache. Zögernd erläßt die Regierung eine Reihe von "Sprachengesetzen". 1930 wird die Genter Reichsuniversität niederländischsprachig, 1932 die flämische Verwaltung und das Schulwesen, 1935 die flämische Gerichtsbarkeit. In Flandern verschwinden die zweisprachigen Straßenschilder, auf den Schaufenstern steht fortan statt "boulanger" einfach "bakker" und auch der bis dato französischsprachige Adel gewöhnt sich widerwillig an die Sprache des Volkes. Um 1940 ist Flandern offiziell einsprachig niederländisch.Nach dem Zweiten Weltkrieg trudelt das Land nämlich in die "Königsfrage".

Die erbitterte Diskussion um die Rückkehr des der Deutschfreundlichkeit verdächtigten Königs Leopold III. aus schweizerischem Exil reißt neue Gräben zwischen den Landesteilen auf: die Mehrheit der katholisch-konservativen Flamen spricht sich für Leopold, die Mehrheit der antiklerikal-sozialistischen Wallonen gegen ihn aus. Auch der "Schulkampf" (1954–1958) – die Auseinandersetzung um die Kürzung der Subventionen für das katholische Schulnetz und die Förderung des Reichsunterrichts – spaltet die Bevölkerung. In den sechziger Jahren flackert das Sprachenproblem noch einmal heftig auf. Die frankophone Abteilung der Universität Löwen ist eine französische Insel im einsprachigen Flandern, was 1966 –1968 zu wütenden Straßenschlachten führt, die mit dem unrühmlichen Umzug der Frankophonen ins wallonische Louvain-la-Neuve enden. Für Flandern ist dies ein symbolischer Sieg. Zwischenzeitlich hat die Region sich auch aufgemacht, ihren industriellen Rückstand aufzuholen.

Flandern besinnt sich mehr und mehr seiner Wurzeln

Die Subventionen fließen, und ausländische Firmen werden mit offenen Armen empfangen: Derweil erleben die traditionellen Industrien der Wallonie (Kohle und Stahl) einen katastrophalen Niedergang. Die Flamen wollen ihre kulturelle Identität nun auch in der Verfassung festgeschrieben sehen. Die Wallonen dagegen pochen auf größere wirtschaftliche Selbständigkeit. 1970 wird die erste Staatsreform durchgeführt, die die belgischen "Kulturgemeinschaften" anerkennt und die Bildung wirtschaftlich autonomer Regionen vorsieht. 1980, 1988 und 1993 folgen drei weitere Reformen, die zuerst den Gemeinschaften, später den Regionen immer mehr Befugnisse des Staates übertragen. Die dem Staat noch verbleibenden Kompetenzen beziehen sich nur noch auf das Sozialwesen und auf klassische Ressorts jeder Regierung, wie Verteidigung, Justiz und Innenpolitik. Für Marcel Gunst, Diplomat im belgischen Außenministerium und Spezialist für das Thema "Flämische Identität" ist der "unstabile Faktor" in der Entwicklung Belgiens die gesellschaftliche Veränderung der Flamen. 1950 sei Flandern noch ein agrarisches Entwicklungsland gewesen, sprachlich, kulturell und wirtschaftlich vom belgischen Einheitsstaat abhängig; heute sei es in jeder Beziehung weitgehend autonom, wodurch auch die Notwendigkeit entfällt, mit dem anderen Landesteil in einer unbeliebten Sprache zu kommunizieren. "Die Kinder der ersten selbstbewußten flämischen Nachkriegsgeneration sind eher angelsächsisch orientiert" meint Marcel Gunst. "Schon heute ist für sie die Wallonie schlicht Ausland. Das Band ist extrem dünn, es wird immer dünner."

Wird es eines Tages endgültig reißen? Über Szenarios wird nur hinter vorgehaltener Hand gemunkelt. Unterdessen besinnt Flandern sich mehr und mehr seiner Wurzeln. Es läßt keine Gelegenheit aus, seinen Malern prächtige Ausstellungen zu widmen, Festivals mit "flämischen Polyphonikern" zu veranstalten, des Glanzes der Statthalterhöfe zu Mecheln und Brüssel zu gedenken, und im Jahr 2000 gar soll flächendeckend der vor 500 Jahren geborene Karl V. als flämischer Fürst gefeiert werden, der die Welt aus den Fugen hob.


 
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