© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    21/99 21. Mai 1999


Korsika: Frankreich bedient sich manipulativer Methoden der Unterdrückung
Für eine weitgehende Autonomie
Jean-Jacques Mourreau

Nachdem die zu Brandstiftern gewordenen Elitegendarmen auf Korsika ihren irrwitzigen Anschlag gestanden haben, droht die "eine und unteilbare" Republik den Kopf zu verlieren. Der französische Staat, so bewandert im Moralisieren, übt sich in illegalen Nacht-und-Nebel-Aktionen.

15 Monate nach dem tödlichen Attentat auf den Präfekten Claude Erignac, dessen Täter bis heute nicht identifiziert werden konnten, ein weiterer Skandal: Beweise, die nach dem Brandanschlag auf ein Strandrestaurant am Tatort gefunden wurden, führten zu der Entdeckung, daß Gendarmen einer Elitetruppe für dieses Verbrechen verantwortlich sind. Tage später war von den Verantwortlichen zu erfahren, daß dieser "Coup" von keinem geringeren als dem korsischen Präfekten Bernard Bonnet angeordnet wurde. Dieser sitzt nun in Paris in Untersuchungshaft.

Bei einer stürmischen Sitzung der Nationalversammlung versicherte Lionel Jospin, Hand aufs Herz, daß er von der ganzen Angelegenheit keine Ahnung hatte. Eine Neuauflage der altbekannten Formel "verantwortlich, aber nicht schuldig". Die Tageszeitung Le Monde behauptet das Gegenteil, daß nämlich Bonnet sich in ständigem Kontakt mit dem Kabinett des Premierministers befand. Die Opposition wittert Morgenluft und verlangt Erklärungen. Jospin erwidert mit dem Hinweis, Bonnet sei durch ein Dekret ernannt worden, das die Unterschrift Jacques Chiracs trägt. Die Opposition gibt sich zufrieden. Zu einem anderen Zeitpunkt hätten entsprechende Tatbestände eine sofortige Krise ausgelöst. Das sind die Merkwürdigkeiten der Demokratie…

Der Präfekt Bonnet, den Jean-Pierre Chevenement in Korsika eingesetzt und mit außerordentlichen Befugnissen ausgestattet hatte, ist kein Unbekannter. In seiner Stellung in Perpignan erregte er durch seine autoritäre Amtsführung und seinen militanten Jakobinismus Aufmerksamkeit. Zweisprachige Schilder und katalanische Fahnen zogen seinen Zorn auf sich.

Präfekten in jakobinischer Tradition und Gehabe

Auch in Korsika führte er sich auf wie ein römischer Prokonsul. Ohne jede Rücksicht auf die Korsen legte er einen Eifer an den Tag, der der "Befriedungen" des Kolonialzeitalters würdig gewesen wäre. In seiner immer wieder bekundeten Absicht, "den Rechtsstaat wiederherzustellen", spielte er den Weltverbesserer, vervielfachte die gerichtlichen Verfolgungen und stellte seine Macht immer wieder unter Beweis. Kurz gesagt, er regierte Korsika, als ob es sich in Rebellion befände. Das ging so weit, daß sich in der korsischen Bevölkerung und unter den gewählten Vertretern Protest gegen diesen Autokraten erhob, der um so unberührbarer war, als er die Regierung hinter sich wußte.

Die französische Regierung hat sich inzwischen losgesagt von ihrem Zorro, der sich im sicheren Bewußtsein wiegte, für die Sache der Republik zu handeln. Wie üblich entzieht sie sich damit ihrer politischen Verantwortung und gibt zu verstehen, daß der Aufruhr um den Präfekten nur ihn selbst betrifft. Man sollte sich von diesem Vertuschungsversuch nicht täuschen lassen. Bonnet gehörte einem Korps von Funktionären an, das unter der Autorität Frankreichs steht und ein Erbe des napoleonischen Systems ist. Jeder Präfekt ist ein direkter Vertreter der Regierung und des Staates. Sicherlich haben die Reformen im Zuge der Regionalisierung seiner Rolle etwas von ihrem Glanz genommen, aber er bleibt der Vertreter der Pariser Macht, dem sich die Machthaber vor Ort fügen müssen. Seine Rolle, die in der Mehrzahl der westeuropäischen Staaten keine Entsprechung findet, ist von den Umständen der jeweiligen Situation bedingt. In den Regionen mit ausgeprägter Identität – Elsaß, Bretagne, Baskenland und Korsika – wird er stets mit großer Sorgfalt ausgewählt, da seine Stellung ihn dazu bestimmt, über die Achtung der republikanischen Ideologie zu wachen.

In Korsika hatte der Präfekt Bonnet für die "Wiederherstellung des Rechtsstaats" zu sorgen, die die französische Regierung mit weniger Eifer in den städtischen Randgebieten betreibt, in die die Polizei nicht länger vorzudringen wagt. Die französische Presse, stets geneigt, offizielle Wahrheiten nachzubeten, und wenig an kulturellen und historischen Feinheiten interessiert, wenn es sich nicht gerade um aktuelle Trends handelt, begrüßte diese Maßnahmen. Ihr Interesse gilt lediglich Völkern, deren Probleme von den Medien aufgebläht werden.

In Wirklichkeit ist die Herrschaft der Franzosen über die Mittelmeerinsel nichts als eine Scharade. Napoleon, Prosper Merimees Colomba, Wildschweinschinken und neuerdings die vielstimmigen I Murini-Choräle dienen ihnen als Bezugspunkte. Über die Korsen wissen sie nichts und kennen nicht einmal deren Geschichte. Weiß Jacques Chirac, angeblich ein Experte der japanischen Dichtkunst, zum Beispiel wenigstens, daß das Toskanische bis 1789 die offizielle Schriftsprache Korsikas war? Weiß Catherine Trautmann, Theologin und Kulturministerin, daß die korsische Sprache nicht einfach eine Variante des Italienischen ist; daß sie dem Lateinischen ähnlicher ist als dem klassischen Italienisch; daß sie eine Reihe von Dialekten zusammenbringt, wobei im Norden der Einfluß des Toskanischen spürbar ist und im Süden der des Sardischen? Wahrscheinlich nicht. Die französischen Machthaber jakobinischer Prägung haben keine Ahnung von Frankreichs kultureller Vielfalt.

Rolle der Regionen wird auch für Paris wichtiger

Der Streit zwischen den Korsen und dem französischen Staat hat eine lange Tradition. Seine Ursprünge liegen in der Art und Weise, in der Frankreich Korsika besetzte und seine Freiheit beschnitt. Als die Republik Genua beschloß, die Insel 1768 im Vertrag von Versailles an seine Alliierten Frankreich abzutreten, gaben die Korsen sich im Bewußtsein, eine Nation zu bilden, auf Betreiben Pasquale Paolis ihre eigenen staatlichen Institutionen. Auf die Abtretung reagierten sie mit dem Entschluß, "zu siegen oder zu sterben".

Die französische Eroberung erfolgte in zwei Phasen. Die erste endete für die Franzosen in Chaos und Flucht (1768); die zweite wurde zu einem Blutbad für die Korsen (Ponte Nuovo, 1769). Pasquale Paoli begab sich ins Exil. 25 Jahre später kündigt ein in Corte einberufener Generalrat den "Abbruch aller politischen und sozialen Bindungen" zwischen Korsika und Frankreich an. Paoli erhält den Titel "Vater der Heimat". Ein anglo-korsisches Königreich wird errichtet. Dann kommt die Stunde des Napoleon Bonaparte. Im Oktober 1796 erobern die französischen Truppen die Insel von neuem. Obwohl Paoli 1807 nach London flieht, ist Korsika noch weit von der Unterwerfung entfernt. Diese wurde erst 1820 erreicht. Und die Forderung nach korsischer Selbstbestimmung flammte trotz Exil und Diaspora immer wieder auf.

In der Folge der Schießerei von Aleria (1975) verbreiteten die Brüder Simeoni die Idee der Autonomie. Sie wollten die "Überfremdung" und "Balearisierung" Korsikas verhindern und gleichzeitig der Klanstruktur ein Ende bereiten, die für die Fortschrittsfeindlichkeit verantwortlich ist. Ihrer Argumentation zufolge spielen die offensichtliche Isoliertheit der Insel und ihre geographische Lage eine Schlüsselrolle. Sie verfolgten mit großem Interesse den Status der Kanalinseln und die Dezentralisierung Großbritanniens, vor allem die Machtübertragung in Wales und Schottland. Der jakobinische Staat hat sich taub und blind gestellt und mit seiner Zurückweisung die Aufnahme des bewaffneten Kampfes provoziert. Ein Vierteljahrhundert später bleibt dieser Staat bei seiner Sturheit. Er führt sich als Kolonialmacht auf, verspricht Wirtschaftswachstum, mißtraut den Korsen aber und bedient sich undurchsichtiger und manipulativer Methoden der Unterdrückung, wie zum Beispiel dem Einsatz von Spezialeinheiten.

Frankreich behauptet, von Korsika die Nase voll zu haben. Aus korsischer Sicht trifft das Gegenteil zu. Bestes Beispiel ist die französische Weigerung, die Existenz eines "korsischen Volkes" anzuerkennen, die der jakobinische Staatsbegriff nicht zuläßt. Dabei sprechen alle objektiven Anzeichen – Sprache, Kultur, Geschichte, Geographie – für eine weitgehende Autonomie.

Prinz Charles Napoleon, ein authentischer Nachfahre Napoleons, teilt diesen Traum und ermuntert die Korsen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Aufmerksame Ohren nehmen die Ähnlichkeiten zu Entwicklungen im Elsaß, der Bretagne, in Katalonien, im Baskenland oder Savoyen wahr. Die Beschwerden sind unüberhörbar. Alles deutet darauf hin, daß es an der Zeit ist, die Rolle regionaler Identitäten im französischen Staatsgebilde neu auszuhandeln.


 
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