© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    21/99 21. Mai 1999


50 Jahre Grundgesetz: Das Jubiläum bietet Anlaß, über die Zukunft Deutschlands nachzudenken
Eine Republik auf Probe
Baal Müller

Der 23. Mai 1949 wird allgemein als der Geburtstag des Grundgesetzes und damit der Bundesrepublik Deutschland angesehen. Angesichts der beeindruckenden Erfolgsgeschichte dieses ursprünglich nur als Provisorium gedachten Gesetzeswerks besteht wahrlich ein großer Anlaß zu feiern. Die zahlreichen Leitartikel und Gedenkreden, die daher mit gutem Grund in diesen Tagen verfaßt und gehalten werden, täten allerdings gut daran, wenn sie – bei allem Lob – auch auf die Fragen eingingen, die berechtigterweise nach Herkunft und Zukunft des Grundgesetzes zu stellen sind.

Hinsichtlich der ersteren ist daran zu erinnern, daß das Grundgesetz am 23. Mai lediglich offiziell verkündet wurde – beschlossen worden war es bereits am 8. Mai durch den Parlamentarischen Rat, der sich aus Mitgliedern der einzelnen Landtage zusammensetzte; vier Tage später, am 12. Mai, war seine Genehmigung durch die Militärgouverneure der Besatzungsmächte erfolgt. Ein Jahr zuvor hatten diese mit Beteiligung der Benelux-Länder, aber unter Ausschaltung der Sowjetunion auf der Londoner Sechs-Mächte-Konferenz den Vertretungen der deutschen Länder den Auftrag erteilt, eine Verfassung auf föderativer Grundlage auszuarbeiten.

Die Reaktion darauf sei "außerordentlich zurückhaltend" gewesen, wie der Berliner Verfassungsrechtler Albrecht Randelzhofer erklärt. Die Länder in den westlichen Besatzungszonen hatten ursprünglich nämlich nicht die Absicht, einen westlichen Teilstaat innerhalb Deutschlands zu gründen. Sie befürchteten, eine eigene Verfassung könnte eine baldige Wiedervereinigung erschweren oder verhindern. Den Anstoß zur Gründung der Bundesrepublik Deutschland gaben erst die westlichen Alliierten, vor allem die USA und England. Das Grundgesetz wurde somit unter alliierter Mitwirkung allein auf einem repräsentativen Fundament ohne direkte Beteiligung der Bevölkerung geschaffen.

Diese Vorsicht mag angesichts des geistig-moralischen Vakuums nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches sinnvoll gewesen sein; nach der friedlichen Revolution in der DDR und der sehr weitgehenden Verankerung eines demokratischen Bewußtseins in ganz Deutschland erscheint sie jedoch als eines der vielen Zeugnisse nachkriegsdeutscher Beflissenheit zur Selbstbeschränkung. Daher haftet dem Grundgesetz, nicht aus inhaltlichen, sondern aus rein formalen Gründen, immer noch ein wenig der Makel an, doch auch ein Produkt alliierter Umerziehungsstrategie zu sein – wenngleich dies die Leistung des Parlamentarischen Rates nicht schmälert und der Akzeptanz in der gesamten Bevölkerung keinen Abbruch tut.

Trotzdem ist an einen Satz des ersten Bundespräsidenten Theodor Heuss zu erinnern: "Man hat, ganz bewußt, den Begriff ’Grundgesetz‘ gewählt (…) und das überlieferte ’Verfassung‘ vermieden, das nun eben erst in der geistigen, rechtlichen und organisatorischen Regelung für Gesamtdeutschland zu einer Würde geführt werden solle." Das Regelwerk sollte "dem staatlichen Leben für eine Übergangszeit eine Ordnung geben". Das Ende dieses Interregnum liegt indes nun auch schon wieder bald zehn Jahre zurück, ohne daß die Deutschen seither die Gelegenheit hatten, über ihre Verfassung abzustimmen.

Der Verzicht auf eine Volksabstimmung über die Einführung des Grundgesetzes und die Erweiterung seines Geltungsgebietes auf die neuen Länder korrespondiert mit einer grundsätzlichen offiziellen Skepsis hinsichtlich plebiszitärer Elemente sowie mit einer daraus resultierenden Übermacht von Parteien und Bürokratien in Deutschland. Die politische Klasse Deutschlands mißtraut traditionell dem Volk. Und das ist falsch. Das fünfzigjährige Bestehen des Grundgesetzes könnte daher auch einen Anlaß bieten, über Schritte zu mehr direkter Demokratie und damit zu einer selbstbewußteren Nation nachzudenken. Freilich ist dabei auch zu bedenken, daß Volksabstimmungen allein noch kein Allheilmittel sind, vor allem dann nicht, wenn es zum Teil an Traditionen fehlt, die Leitlinien zur politischen Willensbildung geben könnten. Neben der unmittelbaren Beteiligung des Volkes ist daher auch das Wiedererstehen einer kulturellen Elite anstatt einer wuchernden Parteienoligarchie zu fördern. Vielleicht könnte einer solchen Schicht von Persönlichkeiten, die sich um das Gemeinwohl besonders verdient gemacht haben, im kommenden Jahrhundert eine institutionelle Bedeutung, etwa nach englischem Vorbild, zuwachsen, die sie zu einem integrativen Faktor auf dem Markt der Meinungen werden läßt. Die Macht der Parteien könnte somit von zwei Seiten aus, von der des Volkes und der seiner Eliten, in einer Weise beschränkt werden, daß sie tatsächlich nur noch – im Sinne des Grundgesetzes – an der politischen Willensbildung mitwirken. Doch ohne die Parteien läßt sich das nicht ändern.

Schließlich ist angesichts des alliierten Einflusses auf das Grundgesetz und des annähernd gleichen Alters von Grundgesetz und Nato auch die Frage nach der deutschen Souveränität in heutigen und künftigen Allianzen zu stellen. 50 Jahre lang war die Nato ein Garant des Weltfriedens und der Sicherheit in Europa; die Rolle, die sie neuerdings jedoch als Exekutive der allein übrig gebliebenen Supermacht spielt, läßt ihre uneingeschränkte militärische Dominanz – gerade auch in Europa – fragwürdig erscheinen.

Dabei ist es eine merkwürdige Ironie, daß sich heute gerade viele derjenigen der Nato als militärische und ideologische Hilfstruppen anbieten, die sie in den vergangenen Jahrzehnten, als Westdeutschland ihren Schutz angesichts der Bedrohung durch die Sowjetunion tatsächlich benötigte, nur bekämpft und verdammt haben. Im Gegensatz zu solchem Widersinn ist selbstbewußt zu überlegen, wie sich das wiedervereinigte Deutschland von den letzten Fesseln alliierter Vormundschaft befreien und einen konkreten Beitrag dazu leisten könnte, daß Europa seine Krisen künftig selbst zu lösen versucht. Mit plumpem Antiamerikanismus hat dies überhaupt nichts zu tun. Die Wiedererlangung politischer Souveränität sowie die allmähliche Emanzipation vom amerikanischen Vormund ist eine der großen politischen Aufgaben der Zukunft für Deutschland und Europa.


 
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