© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    20/99 14. Mai 1999


Sozialwahlen: 47 Millionen Versicherte und Rentner sollen ein Pseudoparlament bestimmen
Überflüssig wie bunte Heftpflaster
Bernd-Thomas Ramb

Das Wort "Wahl" klingt grundsätzlich positiv. Auswahl bedeutet Freiheit. Wahlen zu Parlamenten signalisieren Demokratie und Mitbestimmung. Das Ganze noch in Verbindung mit "sozial" gebracht, läßt die seit dem 23. April laufenden Sozialwahlen als einen Hort von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit erscheinen. Auf 180 Millionen Mark (92.032.538,62 Euro) werden die Kosten dieser Wohlfahrtsveranstaltung vorsichtig geschätzt, bei der allein im Bereich der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) 23 Millionen In- und Ausländer Unterlagen zur Briefwahl erhalten. Parallel dazu finden die Vertreterwahlen zu den sechs Ersatzkassen der Krankenversicherung bei der Barmer, DAK, TK, KKH, HaM und HEK statt, so daß viele die Wahlunterlagen gleich zweifach erhalten. Insgesamt sind rund 47 Millionen Versicherte und Rentner aufgerufen, ihre Stimme per Briefwahl bis zum 26. Mai abzugeben.

Fetzige Fernsehwerbung soll zur Wahlteilnahme anzetteln, Hintergrundinformationen sind dabei Fehlanzeige. Dafür wird auf besonderen Wunsch und nach ausdrücklicher Anforderung von der BfA eine dünnseitige Informationsbroschüre zugesandt, in deren Vorwort BfA-Präsident Herbert Rische der lieben Wählerin und dem lieben Wähler attestiert, daß sie mit der Anforderung dieser Broschüre "ihr Interesse an den sozialpolitschen Zielen der Organisationen und Versicherten bekunden, die sich zur Wahl stellen. Ich bin sicher, daß dieses Heft zur Befriedigung Ihres Informationsbedürfnisses beitragen kann", sichert sich Rische juristisch ab, um anschließend die Wahlberechtigten haftbar zu machen, die eine solche Darstellung der Organisationen und Versicherten auf den Weg gebracht haben. Anläßlich der letzten Sozialwahl im Jahre 1993 hätten viele Versicherte und Rentner bedauert, daß sie nur auf umständlichen Wegen Informationen erhalten konnten. Schuld daran, so Risches Analyse, war die Knauserigkeit der Regierung, denn im Gegensatz zum Bundestag und den Länderparlamenten gibt es bei den Sozialwahlen keine Erstattung der Wahlkampfkosten und somit aus Kostengründen nur beschränkte Möglichkeiten der Öffentlichkeitsarbeit.

Die nur schwer nachvollziehbare Logik der BfA-Argumentation signalisiert eine gewisse Unbeliebtheit der Sozialwahlen bei den betroffenen Institutionen, die wiederum leicht verständlich ist. Gewählt werden Pseudoparlamente mit Scheinbefugnis. Dagegen ist selbst das Europaparlament eine machtvolle Institution. Der demokratische Eiertanz wird auf der offiziellen Internetseite zur Sozialwahl (www.sozialwahl.de) freiwillig unfreiwillig selbst beschrieben: "Selbstverwaltung steht für Demokratie und Mitbestimmung. Organe der Selbstverwaltung bei der BfA sind die Vertreterversammlung und der Vorstand. Sie setzen sich aus ehrenamtlich tätigen Vertretern der Versicherten und Arbeitgeber zusammen und ‘regieren’ (Anführungszeichen der BfA!, d.A.) eigenverantwortlich die BfA."

An anderer Stelle heißt es dagegen vollmundig: "Die Selbstverwaltung bei der BfA und den Ersatzkassen sorgt dafür, daß diese Institutionen im Sinne der Versicherten und Rentner handeln. Ein Blick in die Geschichte zeigt, wie wichtig diese Einflußnahme der Versicherten auf ihre Versicherungsträger ist: Ohne sie wäre die soziale Absicherung der Menschen in Deutschland nach der Wiedervereinigung nicht denkbar gewesen. An der Durchsetzung dieser Leistungen waren die Versicherten und Rentner aktiv beteiligt." Diese Selbstüberschätzung wird allerdings später kleinlaut relativiert: "Der Staat ist für die notwendigen Ordnungs- und Leistungsbedingungen zuständig, die Selbstverwaltung für Qualität und Leistungserbringung." Staatliche Aufsichtsbehörde für die BfA ist das Bundesversicherungsamt. Kurzum, wie bei jeder Körperschaft des öffentlichen Rechts mit Selbstverwaltung entscheidet letztlich allein derjenige, der die Macht des Geldeinzugs und der Geldverwendung besitzt, und das sind die staatlichen Organe, Parlament und Regierung, gestützt von der Sozialstaatsbürokratie.

Da jede Form der Zentralmacht des Staates stets auf Widerspruch stößt, zumindest seitens derer, die von der Ausübung der Zentralmacht ausgeschlossen sind, erscheint die Institution einer Gegenmacht zwangsläufig. Seit 1953 finden daher, nicht zuletzt aufgrund des Drucks der Gewerkschaften, alle sechs Jahre Sozialwahlen statt. Damals siegten die Gewerkschaftsvertreter mit hohem Vorsprung. Inzwischen hat sich jedoch der Frust über die Omnipräsenz der Gewerkschaftsfunktionäre Luft verschafft. Seit 1986 ist die BfA-Gemeinschaft Freie und unabhängige Interessengemeinschaft der Versicherten und Rentner der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte e.V. die Nummer Eins auf der Wahlliste und mit fast einem Drittel der Wahlstimmen stärkste Partei im Sozialparlament.

Ob diese Form der scheinparlamentarischen Opposition den Wählern ausreicht, muß angesichts der zunehmenden Kritik an der Sinnhaftigkeit des gesamten Konstrukts "Sozialwahl" bezweifelt werden. Erfreulich offen (oder gezielt selbstkritisch?) ist die freie Diskussion und Meinungsäußerung auf der Internetseite der Sozialwahl. Die dort wiedergegebenen Kommentare reichen von "Die Sozialwahlen sind ebenso überflüssig wie buntes Heftpflaster, Autozierleisten oder gelbe Knallfrösche" bis zur schlichten Assoziation "Sozialwahl = Verarschung". Entweder ist sich die BfA in ihrer Unantastbarkeit sehr sicher oder sie liebäugelt mit der Abschaffung der Sozialwahlen.

Sollte sich jedoch die Institution der Sozialwahl als robust erweisen, bietet sich die konsequente Ausweitung dieses Demokratieprinzips an. Denkbar wäre beispielsweise, daß auch in der Finanzverwaltung eine "Sozialwahl" durchgeführt wird. Dann könnten sich die Steuerzahler in ein Finanzparlament wählen oder durch Gewerkschaften dort vertreten lassen und über organisatorische Qualitätsverbesserungen und personelle Besetzungen der Finanzämter debattieren. An den Steuersätzen oder der Steuerpflicht dürfen sie natürlich nichts ändern, das erledigt die staatliche Aufsichtsbehörde. Dafür würde aber das enorm wichtige Gefühl der Illusion gesteigert, entscheidend mitbestimmen zu können.

Wenn das erreicht ist, fehlt nur noch das Mitbestimmungsgremium für Schafe, die Anregungen für die Organisation des Schlachthofes geben wollen.


 
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