© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    20/99 14. Mai 1999


Judentum: Rabbiner Halberstadt über das Erfordernis Orthodoxer, sich selbst zu organisieren
"Der Graben ist unüberwindlich"
Gerhard Quast / Dieter Stein

Herr Rabbiner Halberstadt, in der vorigen Woche wurde in Berlin der Bund Gesetzestreuer Jüdischer Gemeinden in Deutschland gegründet. Welche Bedeutung hat dieser Verband?

Halberstadt: Seit Jahren kommen Juden aus Rußland nach Deutschland und suchen hier Judentum. Juden sind sie, aber sie suchen lebendiges Judentum. Sie kennen davon aber nur wenig. Sie wissen, daß ein Jude kein Schweinefleisch ißt, aber nicht, was Judentum wirklich bedeutet. 60 Jahre Atheismus haben bewirkt, daß ein Jude nicht mehr weiß, was er ist. Und das ist der Fall bei 99 Prozent der russischen Juden. Es sind gute Juden, wir schätzen sie alle sehr, aber vom Judentum wissen sie leider sehr wenig. Darum müssen wir Orthodoxe uns um diese Leute kümmern.

Die Jüdische Gemeinde zu Berlin, die einige tausend russische Juden aufgenommen hat, kann das nicht?

Halberstadt: Diese Gemeinde ist leider in den Händen von Reformern. Sie bekommen zwar Judentum vermittelt, aber was ist das für ein Judentum? Die Gemeinde gibt ihnen soziale Hilfestellung – ich sage nicht, daß man das nicht machen soll –, gibt ihnen die Gelegenheit, hier oder da mal in der Synagoge zu beten. Und wenn sie heiraten wollen, bekommen sie auch eine jüdische Heirat. Das sind aber nur kleine Bestandteile des Judentums. Aber was es heißt, Jude zu sein, das wird ihnen nicht erklärt, das wissen die Reformjuden selbst nicht.

Worin liegen also die Unterschiede zwischen einer Reformgemeinde und dem, was die orthodoxen Juden wollen?

Halberstadt: Die erste, die wichtigste Frage ist: Wer ist Jude?

Aber ist das nicht klar definiert?

Halberstadt: Eigentlich schon. Trotzdem tauchen hier Probleme auf. Lassen Sie mich das illustrieren: Da kommt ein Mann aus Rußland nach Deutschland und sagt: "Ich bin Jude! Ich will in die jüdische Gemeinde eintreten." Wer entscheidet das dann? Wir sagen: Ein Rabbiner oder ein rabbinisches Gericht muß die Vergangenheit des Betreffenden untersuchen – wer war sein Vater, wer seine Mutter? – und dann entscheiden. Das jüdische Gesetz ist hier eindeutig: Wenn die Mutter eine Jüdin ist, dann sind auch die Kinder Juden. Wenn der Vater Jude ist, aber die Mutter nicht, dann sind die Nachkommen keine Juden. Die Reformer hingegen sagen, nein, auch wenn der Vater allein Jude ist, sind die Kinder ebenso Juden. Das heißt, in die Reformgemeinden werden "Juden" aufgenommen, bei denen wir sagen: Das sind keine Juden. Die Reformer sind der Meinung, auch die Kinder jüdischer Väter und nichtjüdischer Mütter müssen beschnitten werden. Unserer Meinung nach darf man ihm unter keinen Umständen eine Brit-Mila machen. Damit erkennt man an, daß er Jude ist. Und wir erkennen das nicht an. Die Frage wird noch schwerer, wenn diese Nachkommen heiraten wollen. Wenn der Mann ein Jude ist, kann er eine Jüdin heiraten. Wenn er kein Jude ist, kann er keine Jüdin heiraten. Das ist der Hauptunterschied zwischen den orthodoxen und den Reformjuden.

Aber kann man sich nicht auch zum Judentum bekehren?

Halberstadt: Ja, das ist nach der Halacha, dem jüdischen Gesetz, möglich. In der Bibel gibt es ein Buch Ruth. Dort steht, daß Ruth, gekommen von Moab, von den Moabitern, Proselytin geworden ist. Von ihr stammt König David ab. Um aber Proselyt zu werden, gibt es gewisse Gesetze. Wir fordern, daß, wer Proselyt werden will, diesen Gesetzen entsprechen muß. Er muß zum Beispiel wissen, was Judentum bedeutet und wozu das Judentum ihn verpflichtet. Wenn er das nicht weiß, ist das ganze nur ein Spiel. So wie wir Juden Gott verstehen, so müssen auch Proselyten Gott verstehen. Wir orthodoxe Juden nehmen auch Proselyten an, aber bei den Reformjuden geht es völlig unverbindlich zu: Ach so, Du willst Jude werden, dann unterschreibe hier.

Welche Bedeutung haben in diesem Zusammenhang die jüdischen Speisegesetze?

Halberstadt: Bei uns ist es selbstverständlich, daß jeder orthodoxe Jude die Kaschruth einhält. Ein Reformer hingegen geht in jedes Restaurant und ißt, was alle essen. Das war ein wesentlicher Teil der Assimilation: Die Nichtjuden essen überall, also esse auch ich überall. Das ist auch ein großer Unterschied zwischen Orthodoxen und Reformjuden. Leider sind in den letzten Jahrzehnten die Reformer in Deutschland immer stärker geworden, weil die Orthodoxen langsam aber sicher nach Israel oder in die USA ausgewandert sind. Deshalb können die Reformrabbiner machen, was sie wollen.

Können Sie das näher erläutern?

Halberstadt: Als beispielsweise in Halle ein neuer Rabbiner angenommen wurde, war seine erste Amtshandlung, nachzuprüfen, wer Jude ist und wer nicht. Und er hat vier oder fünf Nichtjuden festgestellt. Diese haben sich dann den Reformern zugewandt, und diese haben durch ein Schiedsgericht beschlossen, es seien Juden. Daraufhin wurde der Rabbiner rausgeschmissen und ein Kommissar eingesetzt, der die Gemeinde führen soll. Was war seine erste Handlung? Er hat sich in sein Büro gesetzt und sich vom nächsten Restaurant eine Mahlzeit bestellt um zu zeigen, bei uns ißt man nicht koscher. Wenige Monate später hat er dann einen Diskotag für Juden und Nicht-Juden veranstaltet. Und das am Jom-Kippur, dem Versöhnungstag, dem heiligsten Tag für alle Juden, für Reformer wie für Orthodoxe.

Ist das Unverständnis für die Orthodoxen in anderen Gemeinden ähnlich?

Halberstadt: Ja, ganz ähnlich. In Hannover zum Beispiel hat der orthodoxe Rabbiner einen Sederabend organisiert. An diesem ersten Abend von Pessach, dem jüdischen Ostern, ißt man zum Beispiel ungesäuertes Brot und andere Sachen. Der orthodoxe Rabbiner hat das für seine ganze Gemeinde organisiert und darauf Wert gelegt, daß alles koscher ist. Und das kostet Geld. Also hat er die Gemeindeleitung gegebeten, das zu bezahlen. Als Antwort bekam er: "Was brauchen wir koscher essen, das ist zuviel Aufwand und Geldverschwendung. Und einen Geldverschwender brauchen wir nicht als Rabbiner." Daraufhin wurde er fristlos entlassen – wenige Tage vor Pessach. Das sind die Methoden der Reformgemeinden gegenüber orthodoxen Juden. Um so etwas in Zukunft zu verhindern, haben wir den Bund Gesetzestreuer Jüdischer Gemeinden gegründet.

Im Moment ist dieser Bund ein eingetragener Verein. Besteht das Bestreben, sich als Körperschaft des öffentlichen Rechts anerkennen zu lassen?

Halberstadt: Zur Zeit ist der Bund tatsächlich nur ein Verein, aber wir hoffen, daß wir später als Körperschaft des öffentlichen Rechts anerkannt werden. Dann wird wenigstens ein Teil der Gelder, die heute an die Reformgemeinden gehen, uns zukommen. Dann hört endlich auf, daß wohlgesonnene Rabbiner bezahlt werden, orthodoxe Rabbiner jedoch nicht. Dann können wir unser religiöses Leben so führen, wie wir wollen, und wir sind nicht mehr auf den Zentralrat der Juden angewiesen.

Ihre Arbeit richtet sich gegen den Zentralrat?

Halberstadt: Der Zentralrat ist daran interessiert, daß wir kein Eigenleben führen, damit er weiter das Geld für alle Juden erhält. Wir aber sagen: Nein! Das Geld, das der Staat für uns gibt, das wollen wir haben.

Ist der Graben zwischen dem Zentralrat und den Orthodoxen unüberwindlich geworden?

Halberstadt: Ja, der Graben ist inzwischen unüberwindlich, weil der Zentralrat behauptet, die Juden in Deutschland sind eine Einheitsgemeinde und gehören zusammen. Für uns ist das aber unmöglich. Unsere Rabbiner – sowohl in den USA als auch in Israel – sind der Meinung, es kann keine Einheitsgemeinde geben. Das ist nach jüdisch-orthodoxer Anschauung absolut unmöglich.

Sicher wollen Sie die Reformjuden zum orthodoxen Glauben zurückgewinnen?

Halberstadt: Wir nennen das "Rückkehr zu den Ursprüngen". Das heißt, wir wollen, daß Leute wieder zurückkehren zu ihrem Glauben. Wenn zu mir einer kommt und sagt: Meine Mutter hat mir gesagt, daß sie Jüdin ist, meine Großmutter hat noch an jedem Sabbat Lichter angezündet, und bei meiner Urgroßmutter war es noch koscher, dann weiß ich, daß er ein Jude ist, und dann werde ich ihn akzeptieren. Fortsetzung von Seite 3

Sie behaupten, der im Juli 1950 gegründete Zentralrat der Juden sei im Prinzip eine Fortführung der Zwangsvereinigung jüdischen Lebens wie bei den Nationalsozialisten.

Halberstadt: Damit wollen wir Orthodoxe zum Ausdruck bringen, daß wir mit der Gründung des Bundes gar nichts neues machen; wir wollen nur unsere alten Rechte zurückbekommen. Nachdem orthodoxe Juden bis zum 9. November 1938 den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts hatten, wollen wir dieses Recht heute wieder haben. Aber der Zentralrat zwingt Juden in eine Einheitsgemeinde. Das machen wir nicht länger mit. Deshalb gibt es zum Beispiel in Berlin die orthodoxe Adass Jisroel. Früher hat man gesagt, jeder kann selig werden, so wie er will. Das bedeutet: Jeder soll seinen Glauben leben, so wie er es für richtig hält. Die Gründung des BGJGD ist also ein Schritt zurück zur religiösen Vielfalt der Vorkriegszeit, die durch das Dritte Reich beseitigt wurde.

Wie stark waren vor dem Krieg die orthodoxen Gemeinden?

Halberstadt: Offiziell waren in der orthodoxen Gemeinde in Berlin etwa 200 bis 300. Die größte orthodoxe Gemeinde gab es mit ungefähr 500 in Frankfurt. In Halberstadt war eine Gemeinde von 300, in Fulda eine von 300. Alle zusammen schätze ich ungefähr auf 10.000. Aber das ist eine reine Schätzung.

Sie haben erwähnt, daß Sie auch hier in Berlin von der Jüdischen Gemeinde behindert wurden. Wie äußert sich das ganz praktisch?

Halberstadt: Ich bin unter anderem deshalb nach Berlin gekommen, um das Grab meines Vaters zu besuchen. Bei meinem letzten Besuch wurde mir jedoch der Schlüssel zum jüdischen Friedhof von der Verwaltung der Jüdischen Gemeinde verweigert. Ich und meine Frau mußten also draußen vor dem Tor stehenbleiben und beten, während mein Sohn über den Zaun steigen konnte. Erst die von Anwohnern gerufene Polizei hat uns – nachdem wir uns ausweisen konnten – das Tor zum Friedhof aufgeschlossen. Daraufhin habe ich mich beim Senat beschwert. Diesmal habe ich mich zeitig angemeldet und die Erlaubnis bekommen, am Todestag das Grab meines Vaters besuchen zu können.

Es gab und gibt in Israel immer wieder Äußerungen, vor allem von Zionisten, die besagen, jüdisches Leben dürfe es im heutigen Deutschland nicht mehr geben.

Halberstadt: Wir Orthodoxe sind der Meinung, daß es Gottes Willen ist, daß die Juden bis zur Ankunft des Messias über die Welt verteilt sind. Sicher, es hat immer Zeiten gegeben, wo wir gelitten haben – das bedeutet aber nicht, daß wir Juden in irgendeinem Land nicht leben dürfen.In diesem Zusammenhang muß ich betonen, daß ich 1943 nicht mit einem zionistischen Anspruch nach Israel gekommen bin. Ich bin kein Zionist im politischen Sinne des Wortes, denn der politische Zionismus – und das ist meiner Ansicht nach der wirkliche Zionismus – ist identisch mit der Ablehnung der Halacha, des jüdischen Religionsgesetzes, und daher für mich unannehmbar. Aber das schließt nicht aus, daß ich Israel liebe, in Israel lebe und auch dort leben will.

Wie empfinden Sie die Diskussion um das Berliner Holocaust-Mahnmal? Ist das die richtige Form des Erinnerns?

Halberstadt: In dieser Frage kann ich nur in meinem Namen sprechen, nicht aber für alle orthodoxen Juden. Lassen Sie mich das illustrieren: Mein Vater hat nur einen ganz schlichten Grabstein mit Namen, Geburts- und Todesdaten und fünf hebräischen Buchstaben, die einen besonderen Sinn haben. Und so sehen die meisten Grabsteine aus. Ein paar Worte mehr oder ein paar Worte weniger. Alles was darüber hinaus geht, davon halten wir nicht viel. Gedenken darf man im Herzen. Alles andere ist unnötig. Ich werde meine Mutter nicht vergessen, auch wenn kein Mahnmal errichtet wird. Und nicht nur meine Mutter werde ich nicht vergessen, auch die Millionen von Juden werde ich niemals vergessen. Das ganze Mahnmal ist meiner Meinung nach also unnötig.

 

Rabbiner Isaak Hakohen Halberstadt ist Oberrabbiner des Bundes Gesetzestreuer Jüdischer Gemeinden in Deutschland (BGJGD). Er wurde 1922 in Berlin geboren. Sein Vater leitete ab 1925 die Volksschule der jüdisch-orthodoxen Schule. Halberstadt selbst besuchte ab 1928 dort die Grundschule und ab 1932 das Realgymnasium der orthodoxen Gemeinde. Nach dem Tod des Vaters im Mai 1939 wird der 17jährige nach England gebracht (die Mutter muß Zwangsarbeit leisten und darf nicht ausreisen), dort 1940 zeitweise als "deutscher Staatsbürger" arrestiert und schließlich nach Australien verbracht. Hier muß er über zwei Jahre in einem Lager verbringen. 1943 bekommt er die Erlaubnis zur Ausreise nach Palästina. Im gleichen Jahr wird seine Mutter in Auschwitz ermordet. In Israel besucht er die Jeshiva und ist bis zu seiner Pensionierung Lehrer am Beit-Jaakov, den höheren Mädchenschulen der orthodoxen Juden. Außerdem ist er ehrenamtlich Rabbiner der orthodoxen Alawat Chessed, einer Synagogengemeinde, die 1938 von orthodoxen Einwanderern gegründet wurde. Bis heute lebt er in Israel. Er ist verheiratet, hat vier Töchter und einen Sohn und ist bei Agudat Jisrael, der größten orthodoxen Weltorganisation, Vertreter für Deutschland.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen