© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    20/99 14. Mai 1999


Vertreibung: Menschenrechte sind unteilbar
Aus Fehlern lernen
Alfred Schickel

Wer die letzten 60 Jahre bewußt miterlebt hat, steht ernsthaft in Versuchung, an der Lernfähigkeit der Menschen zu zweifeln. Wüßte er nicht, daß dieses augenscheinliche Unvermögen durch mehr Geschichtskenntnisse und weniger Voreingenommenheit beseitigt werden könnte, müßte er die Hoffnung auf Besserung aufgeben. Die Gabe der Erinnerung bietet dem Menschen jedoch die Möglichkeit, begangene Fehler einzusehen und ihre Wiederholung zu vermeiden. Voraussetzung sind dabei die Bereitschaft zu ehrlicher Überprüfung des eigenen Standpunktes und der erkennbare Wille, aus gesammelten Erfahrungen zu lernen.

Auf den aktuellen Balkan-Konflikt bezogen bedeutet dies zum ersten die rückhaltlose Erforschung seines geschichtlichen Hintergrunds und zum zweiten die bedingungslose Umsetzung der gewonnenen Erkenntnisse; gleichgültig ob sie opportun erscheint oder nicht in die politische Kampagne paßt.

Bei der Aufhellung des historischen Hintergrunds des Kosovo-Konfliktes treten die Friedensregelungen der Pariser Vorortverträge von 1919 in Erscheinung. Sie segneten die serbische Gründung eines südslawischen Vielvölkerstaates auf dem Balkan völkerrechtlich ab und fügten mit "Jugoslawien" der sogenannten "Kleinen Entente" einen wichtigen Bestandteil hinzu. Zusammen mit Polen, der Tschechoslowakei und Rumänien hatte dieses neue Staatsgebilde auf dem Balkan Frankreichs traditionellen Bündnispartner im Osten, Rußland, zu ersetzen und sich als Einschließungsring ("Cordon sanitaire") um das Deutsche Reich zu legen.

Daß Jugoslawien – ähnlich wie die Tschechoslowakische Republik (CSR) – als multinationaler Staat schwere innenpolitische Probleme hatte, bekümmerte die Friedensmacher von 1919 nicht sonderlich. Entgegen allen abgegebenen Versprechungen hatten sich die nach Österreich bzw. Deutschland ausrichtenden Sudetendeutschen den Tschechen ebenso zu fügen wie die nach staatlicher Selbständigkeit strebenden Kroaten. Tschechen wie Serben fühlten sich als Mitsieger des Ersten Weltkriegs und ließen dies ihre deutschen bzw. kroatischen "Mitbürger" spüren. Die Ereignisse der Jahre 1938/39 und 1941 waren die Folgen. Da sie sich vor dem Hintergrund der NS-Diktatur in Deutschland vollzogen, suchte man ihre Ergebnisse 1945 wieder rückgängig zu machen und die Volksdeutschen als die Schuldigen hinzustellen. Ihre Ausweisung sollte einem abermaligen Zerfall vorbeugen.

Entsprechend wurde die CSR nach dem Krieg durch die Vertreibung der Sudetendeutschen "ethnisch gesäubert". Eine "innenpolitische Bereinigung", welche die Polen in den von ihnen okkupierten deutschen Ostgebieten in gleicher Unmenschlichkeit praktizierten. Die verantwortlichen Politiker der Zeit nahmen diese millionenfachen Menschenrechtsverletzungen hin – und ihre amtierenden Nachfolger suchen sie hinter einem "Schlußstrich" vergessen zu machen. Dabei bedenken sie offenbar jedoch nicht, daß sie mit einem derartigen "Abschluß" eines Unrechtes einen folgenschweren Präzedenzfall schaffen und spätere "ethnische Säuberer" zu gleichem Tun verleiten. Und sie stellen wohl auch nicht zur Genüge in Rechnung, daß ein solches Umgehen mit der Vergangenheit die Glaubwürdigkeit ihres Handelns in der Gegenwart beschädigt.

Wer die Einlösung der Menschenrechte für seine Landsleute im Falle der vertriebenen Ost- und Sudetendeutschen für "anachronistisch" erklärt, wirkt wenig überzeugend bei der Durchsetzung von Menschenrechten mittels Bombardierungen auf dem Balkan. Ebenso wie die öffentlich reportierten Klagen über das leidvolle Schicksal der Kosovo-Flüchtlinge bei jenen überraschen, die vom gleichen Opfer der deutschen Vertriebenen heute nichts mehr wissen wollen.

Die Jahre der Deutschen-Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg sind in puncto Kenntnisse und Wissensvermittlung zur eigentlichen "unbewältigten Vergangenheit" der deutschen Geschichte geworden, was sich nicht zuletzt wiederum in den Äußerungen der öffentlichen Meinungsführer und politischen Verantwortungsträger ausdrückt. Über dieses offenkundige Defizit tröstet auch die gleichermaßen problematische Luftkriegserklärung der westlichen Militärallianz nur wenig hinweg, die sich bereits im Zweiten Weltkrieg mehr spontanen Widerstand als größere Kapitulationsneigung erbombt hatte.

Lediglich in der offenkundigen Scheu vor einem "Bodenkrieg" scheinen die westlichen Interventionalisten an gesammelte Erfahrungen der Vergangenheit zu denken. Da lassen die leidvollen Erinnerungen an den opferreichen Vietnam-Krieg die Nato-Führungsmacht noch vor einem möglichen Infanterie-Einsatz zurückschrecken; da kommen dem deutschen Zeitgenossen die blutigen Partisanenkämpfe des Zweiten Weltkriegs ins Gedächtnis – mit dem bitteren Beigeschmack, daß nach dem Krieg die überlebenden deutschen Soldaten und Offiziere wegen ihres Vorgehens gegen diese Freischärler vor alliierte Siegergerichte gestellt und als "Kriegsverbrecher" abgeurteilt wurden.

 

Dr. Alfred Schickel ist Leiter der Zeitgeschichtlichen Forschungsstelle Ingolstadt (ZFI).


 
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