© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    19/99 07. Mai 1999


1. Mai-Krawalle: Mit einem neuen Konzept begegnete die Polizei linken Gewalttätern
Nicht zu aufdringlich
Ronald Gläser

Wenn die extreme Linke zur revolutionären 1. Mai-Demo aufruft, sucht jeder halbwegs vernünftige Mensch das Weite. Um den Berliner Bezirk Kreuzberg macht man am "Tag der Arbeit" eigentlich einen großen Bogen. Um so mehr erstaunt es, im Umfeld des Oranienplatzes auf friedliche Anwohner zu stoßen, die in Straßencafés die Sonne genießen oder mit kleinen Kindern Spaziergänge unternehmen.

Der erste Demonstrationszug am frühen Nachmittag verlief auch durchaus friedlich. Türken lassen Mao Tse-tung hochleben; Kurden demonstrierten für die Freilassung Öcalans. Ab 18 Uhr sammelten sich dann rund 10.000 Teilnehmer für ihre große Demo gegen den Nato-Krieg, gegen Rassismus und Großmachtgelüste, gegen die Hauptstadt der Bänker und Bullen und all die anderen Dinge, die fortschrittlichen Zeitgenossen am Herzen liegen. Ein Flugblatt verrät "Tips und Trix (sic!) bei Demos und anderen Aktionen": "Demos sind häufig anstrengend und kräftezehrend. Geh deswegen ausgeschlafen (.....) dorthin". Adreßbücher, Kalender und Fotos solle man lieber zu Hause lassen, aber Binden und Tampons sowie Ersatzhalstücher ("schützt Dich vor CN/CS-Gas") werden immer gebraucht. Tierliebe kann am 1. Mai nicht demonstriert werden: "Überlegt Euch, ob Ihr Eure kleinen Monster unbedingt auf diese Demo mitnehmen solltet." Wer Verletzungen davonträgt, wird vor den Krankenhäusern gewarnt, die mit der Polizei kooperieren und Personalien "direkt an die Bullen weiterleiten". Die "Schergen" verüben nämlich gewalttätige Übergriffe.

Diese "Schergen" wollen aber diesmal gar nicht als Störfaktor erscheinen. Die Polizei hat ihre Strategie grundlegend geändert. 41 Beamte haben ihre Knüppel abgelegt und statt dessen Baseball-Mützen aufgesetzt. Sie propagieren "Anti-Gewalt mobil" und suchen das Gespräch mit den potentiellen Krawallmachern. "Nur nicht zu aufdringlich" will er auftreten, sagt ein 30jähriger Polizeibeamter: "Wir reden mit den Leuten und versuchen sie davon zu überzeugen, daß Gewalt nicht weiterhilft". Einige Jugendliche beginnen mit ihm zu streiten. Schönbohm sei schuld an der Gewalt. "Aber sieh’ mal, in NRW oder in anderen Ländern, wo es Innenminister und sogar Polizeipräsidenten von den Grünen gibt, kommt es auch zu Ausschreitungen", entgegnet der Beamte. Eine ältere Frau mischt sich ein: "Ich habe gesehen, wie Polizeibeamte am Alexanderplatz auf wehrlose Kurden geprügelt haben, auf der PDS-Kundgebung, wo Gysi gesprochen hat." Der Beamte windet sich. Es gäbe leider von beiden Seiten Gewalt, das sei alles sehr traurig.

Einen eintägigen Kurs, "Workshop" genannt, haben die Beamten dafür absolviert. Mit den Bezirkspolitikern haben sie gesprochen. Ein zerbeultes Polizeifahrzeug mit einer ansehnlichen Sammlung von Waffen haben sie in den Brennpunkten der Stadt herumfahren lassen. Gebracht hat es nichts. Während der Demo macht man sich per Mikrofon über die Therapiegruppe in Olivgrün lustig: "Die Bullen fahren mit einer Wanne ‘rum, die von früheren 1. Mai-Einsätzen reichlich verbeult ist." Da erschallt Jubel.

Unter den Demonstranten sind viele unauffällige junge Leute, etliche Mädchen weit unterhalb der Volljährigkeit. Eine verteilt ein Flugblatt vom "Bund gegen Anpassung", das geheime Nachrichten aus Jugoslawien zu berichten weiß: "mindestens 88 Nato-Aggressoren, darunter eine satte Zahl von Deutschen", seien gefallen. Die gleichgeschaltete Presse würde dies unterdrücken. Für etliche Teilnehmer des Demonstrationszuges scheint es sich um ein "Event" zu handeln.

Es kommt, wie es kommen muß: Obwohl im Vorfeld einige Festnahmen erfolgt waren und Rasierklingen, Taschenmesser und Ketten beschlagnahmt werden konnten, fliegen bei Einbruch der Dunkelheit die ersten Steine, Flaschen und Feuerwerkskörper auf Polizeibeamte. Autos werden demoliert, Fensterscheiben zertrümmert. Polizeikräfte, die sogar aus Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen zu Tausenden in die Hauptstadt geholt wurden, treten den Chaoten entgegen. Nach einigen Stunden haben die "Schergen" die Lage wieder halbwegs unter Kontrolle, aber der Preis, den sie bezahlen mußten, war hoch: 160 von ihnen wurden verletzt.

Woher kommt die Gewalt? Wenn an einer amerikanischen High School ein durchgeknallter Schüler seine halbe Klasse umlegt, weiß man sofort von Verbindungen zu neonazistischen Organisationen zu berichten. Wenn aber die extreme Linke den Staat herausfordert, wirken die Verantwortlichen sprachlos. Ein Beamter vom "Anti-Gewalt mobil", Erster Polizeihauptkommisar Selowski, hat sich mit seinen Kollegen mit den politischen Hintergründen auseinandergesetzt: "Das hängt mit dem Zusammenbruch des Kommunismus zusammen." Was hat diese Gewalt mit dem Zusammenbruch des Kommunismus zu tun? "Naja, die Kapitalisten haben dadurch viele Maßnahmen durchsetzen können, die nicht gerade sozialverträglich sind." Die Krawallmacher als Opfer eines neuen Manchester-Kapitalismus?

Am nächsten Morgen ist von den Ausschreitungen nicht mehr viel zu sehen. Die Berliner Stadtreinigung hat die Glasscherben bereits in der Nacht entsorgt. Nur eine zerstörte Bushaltestelle und das an manchen Stellen aufgerissene Pflaster erinnern noch an den "revolutionären 1. Mai" und die traditionell nach der Demo einsetzenden Krawalle.


 
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