© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    19/99 07. Mai 1999


Literatur: Zum 60. Geburtstag des Schriftstellers Volker Braun
Leerstellen, ausgeleuchtet
Andrzej Madela

1988, die DDR entschlummert schon halb in den Zustand klinischen Todes, erscheint beim Reclam Verlag Leipzig ein schmales Büchlein mit dem barock anmutenden Titel "Verheerende Folgen mangelnden Anscheins innerbetrieblicher Demokratie". Es findet reißenden Absatz, obwohl es sich dabei nicht um Belletristik handelt. Gegenstand des Bändchens sind vielmehr präzise gebaute, kurze und treffsichere Kommentare zur Lage im Lande. Verfasser ist der Berliner Autor Volker Braun, 49, einer der stärksten philosophischen Köpfe zwischen Oder und Elbe.

So diffus das Material auf den ersten Blick auch scheinen mag – da wimmelt es von Dankesreden, Einblicken in die Stimmung bei Kumpeln in der Schwerindustrie und Parodien aufs verbeamtete Nützlichkeitsdenken à la Ost-Berlin –, so ernst zu nehmen ist das Werk insgesamt. Denn aus dem kunstvoll komponierten Stimmengewirr dringt unüberhörbar eine Rede, die den fortschreitenden Verfall der DDR aufgreift, ihn geradezu obsessiv variiert und immer wieder die schleichende Auszehrung ihrer ideellen Basis dem Leser vor den Latz knallt. Dabei tut es dem Anliegen des Autors keinen Abbruch, daß diese Rede mal als melancholische Clownerie, mal als grimmige Attacke daherkommt, um sich an anderer Stelle in der Parodie standardisierten Parteijargons als weitgehend durchdachter Plan einer schmerzlosen und radikalen Lösung der herangereiften ideologischen Probleme zu entpuppen. Man merkt auf Anhieb: Da ist ein Radikaler am Werk, dem unter dem Haufen realsozialistischen Kulturmülls schier die Luft zum Atmen ausgeht.

Der da spricht, erkennt aber auch, daß das analytische Werkzeug seiner Genossen arg verbraucht ist. In einem Zeitalter, da Intelligenz und Bürokratie ineinanderfließen und Freiheit (wieder) mehr wert ist als Sicherheit, wird der diffizilen Wahrheit der DDR kaum mit dem Wortbrei beamteter Staatsphilosophen beizukommen sein. Eine neue Begrifflichkeit muß her, die dem hochgradig arbeitsteiligen, aber finanziell nahezu bankrotten Preußenkommunismus zu Leibe rückt, ohne auf seine Sprache angewiesen zu sein. Spuren der neuen Denkweise finden sich mühelos bereits in den "Verheerenden Folgen" selbst. Aus der Lektüre französischer Postmoderne, westdeutscher Sozialismuskritik und aus eigenen Überlegungen entwickelt Braun ein Instrumentarium, das sich gerade in den Umbrüchen um 1989/90 so glänzend bewährt.

Braun ist weder bereit, dem weinerlichen Klageton und der verklärenden DDR-Sicht einer Christa Wolf zu folgen, noch stilisiert er sich mediengerecht zu einem erbittert verfolgten Freiheitskämpfer hinauf. Sein Band "Bodenloser Satz" (1991) impliziert bereits im Titel den Zwiespalt gegenüber der neuen Lebenswelt, spielt dieser doch sowohl auf einen kühnen Sprung über ungeahnte Hindernisse an als auch auf das willenlos treibende Strandgut. Beides, so Braun, gehört zur Dialektik des vereinigten Deutschland, ein Zuwachs an Freiheit ist nicht ohne das andere zu haben.

Vielleicht erwächst seine Ausnahmestellung unter den deutschen Gegenwartsautoren gerade daraus, daß er diesen Zwiespalt aus der Privatheit ans Tageslicht zerrt. Er hatte den DDR-Marxismus hinter sich gelassen, als viele seiner DDR-Kollegen darin noch eine praktikable Methode der Wirklichkeitsanalyse zu erkennen glaubten. Und er kam in dem vereinten Deutschland mit einer Weltsicht an, die zwar kapitalismuskritisch war, nicht aber antiwestlich fundiert; was ihn eher für das FAZ-Feuilleton nobilitierte als für das des Neuen Deutschland. Diese Sicht sorgt in der frischgebackenen Groß-BRD für erhebliche Irritationen und läßt besonders linksliberale Kritiker (etwa Richard Herzinger) vergessen, daß Braun zu den ganz wenigen deutschen Gegenwartsautoren aus der DDR gehört, denen die Vereinigung nicht als Katastrophe erscheint.

Letzteres findet nur selten Erwähnung bei der Kritik. Liegt das daran, daß vermeintliche Fachleute für aufgerissene deutsche Wunden sich im Buchhandel erfolgreicher vermarkten lassen? Fakt ist jedenfalls, daß Braun sich nach 1990 zu dem gemausert hatte, was ihm in der DDR verwehrt blieb: einem fulminanten Kulturkritiker, der den Zerrissenheiten deutscher Lebenswege nicht mit dem Habitus professoraler Arroganz begegnet, sondern ganz nahe dran an eher unspektakulären Biographien bleibt. Legendär ist in diesem Zusammenhang sein Hinze-und-Kunze-Projekt, ein Thema, das ihn seit über 30 Jahren beschäftigt und aus dem bereits mehrere Bücher hervorgegangen sind. Die Geschichte des DDR-Staatsfunktionärs Kunze und seines Fahrers Hinze, deren Biographien bis in das vereinigte Deutschland führen, ist ein einmaliges Kleinod einer auf den Punkt gebrachten Kulturgeschichte der DDR.

In den gängigen Geschichtsdarstellungen der DDR-Literatur fungiert der Name Braun stellvertretend für eine rebellische Generation, die das Politische gerade im Privaten entdeckt, in der Mickrigkeit Ostberliner Altbauwohnungen ebenso wie in den verqualmten Jugendclubs zwischen Leuna und Merseburg. Die großen ideologischen Debatten haben hier keinen Platz, sie sind von Alltagssorgen, Hochschulzwängen und Liebesnöten verdrängt worden. Aber Brauns Generation bestand noch hartnäckig darauf, daß Politisches und Privates in einer größeren Einheit – und sei es der der Utopie – aufgehoben werden müßten. Die zunehmende Vereinzelung von Lebenswegen in der DDR hielt sie lange Zeit für eine Fehlentwicklung.

Heute zeigt sich, daß die Individualisierung von Biographien nicht die Ausnahme, sondern die Regel darstellt. Konsequenzen für Brauns Werk: Der Traum von einer Einheit des Lebens ist ausgeträumt, Betriebe abgewickelt und Kollektive suspekt. Auch in der Literatur geht es längst nicht mehr darum, Zusammengehörigkeit herzustellen; sie kann allenfalls als eine Leerstelle ausgeleuchtet werden. In Brauns erst vor wenigen Wochen erschienenen Gedichtband "Kumulus" wird uns eine solche Leerstelle in Reinkultur serviert: Seine Figuren mit ihren sozialen Ängsten und körperlichen Gebrechen deuten ganz vage an, daß ihnen ein größerer Zusammenhang noch dunkel schwant. Ob er auch erstrebenswert wäre, wissen sie, die Gestrandeten der 90er Jahre, nicht mehr zu sagen. Und ob der Schöpfer dieser Figuren das weiß, ist ebenfalls fraglich. Im Gegensatz aber zu seinen westdeutschen Kollegen, deren Praxis dieses Ideal längst aufgegeben hat, hält er ihm die Treue – im Wissen darum, wie vergeblich sie sein wird.


 
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