© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    19/99 07. Mai 1999


Balkan-Konflikt: Eine Erwiderung auf Daniel Goldhagens These
Unmoral der Davos-Kultur
Baal Müller

Daniel Goldhagen, 1996 Autor des umstrittenen Buches "Hitlers willige Vollstrecker", hat sich zurückgemeldet. In einem Beitrag für das Feuilleton der Süddeutschen Zeitung plädiert der US-Soziologe für eine "deutsche Lösung" für den Balkan: Um das Völkermorden zu beenden, muß die Nato Serbien besiegen, besetzen und umerziehen, meint der Dozent für Politikwissenschaft an der Harvard Universität.

Die Frage, die sich Goldhagen stellt, ist schlicht: "Wären Albaner, Bosnier, Kroaten, Europäer, Nordamerikaner und sogar Serben besser dran, wenn Serbien durch einen Saddam Hussein oder wenn es durch einen Konrad Adenauer regiert würde?" Das kleine Problem besteht nur darin, daß ein Adenauer – über dessen Vorzüge im Vergleich mit Saddam Hussein Einigkeit bestehen dürfte – im Augenblick in Serbien gerade nicht zur Verfügung steht.

Dieser mißlichen Realität glaubt Goldhagen allerdings abhelfen zu können: Die Nato müßte bloß in Serbien einmarschieren, eine Art Adenauer einsetzen und eine umfassende Reeducation in Gang setzen, wie sie in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg auch so erfolgreich gewesen sei: "Im Jahre 1945 haben die Deutschen und Japaner aufgehört, andere umzubringen. Ein paar Jahre später waren sie keine Bedrohung mehr für ihre Nachbarn. Deutschland und Japan wurden Demokratien, gute Nachbarn und verantwortungsbewußte Mitglieder der Völkergemeinschaft."

Möglich wurde diese "Doppel-Transformation" dadurch, daß beide Länder "total besiegt und besetzt" und "von ihren Eroberern gezwungen" wurden, "demokratische Institutionen anzunehmen und im öffentlichen Bereich ihre nationalistischen, militaristischen und menschenverachtenden Überzeugungen abzulegen", schreibt Goldhagen. "Besiegen, besetzen und umerziehen", lautet dementsprechend das Konzept des US-Amerikaners für ein friedliches und gutnachbarliches Serbien: "Wie bei Deutschland und Japan ist auch hier die militärische Niederwerfung, Besetzung und Neugestaltung der politischen Institutionen eine moralische und praktische Notwendigkeit."

Viel ist bei Goldhagen von "Moral" die Rede: insgesamt fünfzehnmal verwendet er die Wörter "moralisch" oder "Moral" – genau dreimal so häufig wie "politisch" und "Politik". Entsprechend argumentiert er auch als Moralist und weniger als Politikwissenschaftler, und wie alle Moralisten verdrängt er das Politische, oder – was oft noch schlimmer ist – er verwechselt Politik und Moral miteinander. Unbeeindruckt von der Realität predigt er den Mythos von der "universellen Moral", auf der das "Tun" einer "wohlwollenden Besatzungsmacht" aufbauen würde, was diese freilich den unterworfenen Serben erst "klarmachen" müsse.

Vollends zum Theologen mutiert der Moralapostel allerdings, wenn er die Heilige Allianz der Nato warnt, ihr gutes Werk nicht "leichten Herzens" anzugehen, denn auch ihre Führer könnten keine "moralische Reinheit" für sich beanspruchen. Allzuoft hätten sie sich schließlich schon befleckt und "Schande" auf sich geladen, indem sie anderen Massenmorden und Genoziden tatenlos zusahen. Leider kommt Goldhagen nicht auf die Idee, daß dieses Zusehen, hinter dem oft ein mehr oder weniger tatkräftiges Paktieren mit den Tätern steht, kein schändlicher Abfall von der universellen Moral, sondern vielmehr ein Ausdruck dessen ist, daß es eine solche nicht gibt.

Gewisse Grundüberzeugungen, daß es normalerweise verboten ist, zu stehlen, zu töten, zu brandschatzen, sind keinesfalls Ausdruck eines allgemein gültigen und gottgegebenen Weltethos, auch wenn sie in allen Kulturen verbreitet sind. Entscheidend ist nämlich, daß sie überall auf unterschiedlichen Voraussetzungen beruhen, welche die moralischen Vorstellungen bedingen und umgreifen.

Da der kulturelle und erst recht der anthropologische Rahmen viel weiter ist als derjenige Teil seiner moralischen Inhalte, der auch von Angehörigen anderer Kulturen vorläufig akzeptiert wird, ist stets genug Raum vorhanden für die Einschränkungen, Umschichtungen und Umbewertungen dieser Inhalte. Wesentlich sind nicht die aktuellen Übereinstimmungen moralischer Überzeugungen, sondern ihre unterschiedlichen Hintergründe, aus denen sich Differenzen ergeben, die solche Gemeinsamkeiten immer wieder aufheben.

Diese Differenzen resultieren weniger aus der Existenz gänzlich voneinander abweichender Leitideen als aus deren unterschiedlicher Hierarchie. Mögen die Überzeugungen auch zu weiten Teilen dieselben sein, so können sie doch in Abhängigkeit von der jeweiligen Kultur oder Ideologie auf sehr verschiedene Weise systematisiert werden, woraus sich die Vielzahl und prinzipielle Unabgeschlossenheit der normativen Konzepte ergibt.

Es ist alles andere als selbstverständlich, wenn Goldhagen etwa den "Schutz des Lebens und die Grundrechte der angegriffenen Völker" als "Primär-Prinzipien" und den "Respekt für Souveränität und Selbstbestimmung" nur als "Sekundär-Prinzipien" ansieht. Man könnte die Gewichtung anders vornehmen und tut dies auch in vielen Teilen der Welt. Goldhagens "universelle Moral", die nicht einmal in den westlichen Ländern uneingeschränkt akzeptiert, sondern eher nur die Überzeugung einer schmalen globalisierten Elite ist – Samuel Huntington nennt sie die "Davos-Kultur" –, wird in anderen Kulturen lediglich als die Moral des Westens angesehen.

Eine dauerhafte Friedensordnung für den Balkan müßte diese Voraussetzungen ernstnehmen, anstatt lediglich Kreuzzüge für das Phantom der einen Moral zu führen, wie es die Strategie der Nato und ihres in weit vorauseilendem Gehorsam vorpreschenden, allzu willigen ideologischen Vollstreckers Goldhagen ist.

Die Tatsache, daß bei Umerziehung in Deutschland aufgrund vieler historischer und nur vorübergehend suspendierter Gemeinsamkeiten mit den Siegermächten funktionierte, bedeutet nicht, daß dies auch in Serbien möglich und sinnvoll ist. Noch weniger als hierzulande liefern auf dem Balkan abstrakte moralische Ideen der europäischen Aufklärung die Identifikationsmuster der Menschen, sondern vielmehr die nach dem Fall des Kommunismus in fanatischem Eifer wiederentdeckten Religionen und sprachlich-kulturellen Verwandtschaftsbeziehungen.

Die Erkenntnis und Akzeptanz der kulturellen Differenzen impliziert übrigens nicht notwendigerweise die achselzuckende Hinnahme von Verbrechen, nur weil sie in anderen kulturellen Kontexten verübt werden, denn obwohl sich die letzteren unterscheiden, ist das Elend überall gleich.

Wichtig ist vielmehr bei der Suche nach einer Lösung für den Balkan-Konflikt, die traditionellen Unterschiede und ihre institutionellen Träger zu berücksichtigen. Nicht Einmischung, Einebnung und Vereinheitlichung sollte daher das Konzept der Stunde sein, sondern ideologische Enthaltsamkeit.


 
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