© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    19/99 07. Mai 1999


DDR-Renten: Füllhorn für die Täter, Brosamen für die Opfer
Eine bittere Erfahrung
Werner H. Krause

Was immer das Politbüro oder das Zentralkomitee der SED anordnete, die der sozialistisch verfaßten Staats- und Gesellschaftsordnung der DDR treu ergebenden Funktionäre funktionierten. Die politischen Kader verkörperten in ihrer Gesamtheit einen Apparat, der sich stets und ständig des Mittels der Indoktrinierung bediente, zuweilen auch, wenn es die Partei zur Aufrechterhaltung ihrer Macht für erforderlich hielt, schärfste Repressionen anwandte.

Ob im Thälmann-Kombinat in Magdeburg, in den Leunawerken "Walter Ulbricht", in der Offiziershochschule "Karl Liebknecht", auf der LPG "Frohe Zukunft" in Mecklenburg, an der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaften, der Parteihochschule "Karl Marx" oder der Karl-Marx-Universität in Leipzig, an Schulen und Hochschulen, in der Nationalen Volksarmee, der Deutschen Volkspolizei, der Freien Deutschen Jugend, der Gesellschaft für Sport und Technik, aber auch in den Räten der Kreise und Bezirke, im Ministerrat der DDR – überall hatte sich ein Funktionärsklüngel eingenistet.

Diese Funktionäre wurden für ihre Willfährigkeit mit Gehältern und Sonderzuwendungen, luxuriösen Urlaubsheimen wie in Schierke im Harz oder in Binz auf Rügen, vielfach auch mit speziellen Einkaufsmöglichkeiten für Westwaren (ohne wie die übrigen Bürger mit Westgeld bezahlen zu müssen) sowie mit der schnellen Zuteilung von Autos bedient, auf welche normale Bürger acht bis zehn Jahre warten mußten.

Nach der Vereinigung büßten diese DDR-Funktionäre ihre bisherigen Privilegien ein. Nun werden sie diese nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes vom 28. April wieder zurückerhalten. Die Verfassungsrichter fällten eine formaljuristische Entscheidung, deren Kerngedanke bereits im Ansatz falsch ist. Denn die Richter formulierten, daß gemäß dem in der Verfassung verankerten Eigentumschutz die Renten im Verhältnis zur tatsächlich erbrachten persönlichen Arbeitsleistung zu stehen haben.

Das Gericht schlußfolgerte, daß es verfassungswidrig gewesen sei, hohe Renten (2.700 Mark) kurzerhand zu kappen, was die Betroffenen dazu veranlaßt hatte, in über 5.000 eingebrachten Klagen vom demokratischen Rechtsstaat Gerechtigkeit zu verlangen. Durch das jetzige Gerichtsurteil wird ein Personenkreis von etwa 330.000 ehemaligen Systemträgern – verschwindend ist darunter die Zahl derjenigen, die etwa den Stasi-Offizieren die Suppenterrine auf den Tisch stellten oder in Wandlitz den Rasen mähten – sich nunmehr weitgehend an den alten Pfründen erfreuen.

Was vom Bundesverfassungsgericht als Akt der Gerechtigkeit apostrophiert wurde, führt in der Praxis dazu, daß jetzt auch Vernehmungsoffiziere der Stasi, die Zehntausende von politischen Gefangenen "prozeßreif präparierten", Politoffiziere der NVA, Grenztruppen, Volkspolizei, die Professorenschaft des Instituts für Marxismus-Leninismus, die Kader der SED-Parteihochschule sowie viele weitere wieder aus einem Füllhorn schöpfen können. 264.000 ehemalige politische Gefangene des SED-Regimes aber, deren berufliche Entwicklung nach jahrelanger Haft geradewegs ins Abseits führte, was sich heute auf ihre Renten auswirkt, sehen sich wieder einmal als Opfer. Sie haben die bittere Erfahrung gemacht, daß sich letztlich eben Täterschaft auszahlt.

Das Bundesverfassungsgericht baute seine Entscheidung auf dem Begriff der erbrachten Arbeitsleistung auf. Krankenschwestern und Verkäuferinnen, Traktoristen in der LPG, Produktionsarbeiter am Fließband, sie alle haben zu DDR-Zeiten etwas geleistet, was dieser Vokabel tatsächlich gerecht wird. Der Lohn einer Krankenschwester betrug höchstens 800 Mark, Verkäuferinnen mußten sich mit 600 Mark oder weniger begnügen, ihre Renten fallen entsprechend aus. Nunmehr wird aufgrund des Karlsruher Urteils der alte Zustand festgeschrieben: Ihr da oben und wir hier unten, dort die Drohnen und hier die fleißigen Arbeitsbienen, alle befinden sich wieder im alten DDR-Schema.

Viele DDR-Opfer empfinden das Urteil als in höchstem Maße diskriminierend. In einer Stellungnahme der Union der Opferverbände der kommunistischen Gewaltherrschaft heißt es hierzu: "Handlanger des SED-Regimes können sich jetzt ins Fäustchen lachen. Nunmehr hat das Bundesverfassungsgericht durch seine Entscheidung, die bislang praktizierten Rentenkappungen bei Systemträgern weitgehend aufzuheben, neun Jahre nach der politischen Wende den Weg für viele Täter freigemacht, noch einmal kräftig zuzulangen. Mittels juristischer Formalien wurde geradezu der Nachweis geliefert, daß sich Täterschaft im wahrsten Sinne des Worte auszuzahlen pflegt."

Der letzte Ministerpräsident der DDR, Lothar de Maizieré, kommentierte die Karlsruher Entscheidung mit den Worten, "dieser Rechtsspruch ist richtig, weil er die Lebensleistungen der Menschen in Rechnung stellt". Wendet man darauf die Gesetze der Logik an, dann haben also Stasi-Offiziere, welche sich die Hände schmutzig machten, so etwas wie eine Lebensleistung vollbracht. Grenztruppenkommandeure, die auf Flüchtlinge schießen ließen, dürfen sich dies als Lebensleistung anrechnen.

Für Harald Strunz, den Vorsitzenden des Berliner Landesverbandes des Bundes der Stalinistisch Verfolgten, verkörperte die Stasi eine verbrecherische Organisation. Wolfgang Becker, der den Verband politischer Häftlinge des Stalinismus leitet und viele Jahre im Zuchthaus Bautzen eingekerkert war, erinnert sich, wie dort am 31. März 1950 nach einem Aufbegehren der Häftlinge Volkspolizei stundenlang mit Eisenstangen auf sie einschlug. Die Stützen des Regimes richteten ein wahres Blutbad an.

Die Bundesregierung scheint es auch überhaupt nicht als peinlich empfunden zu haben, daß sie just am gleichen Tag, an dem das Verfassungsgericht beschloß, zahlreiche Vorschriften aus dem Rentenüberleitungsgesetz zu Gunsten der Systemträger neu zu regeln, den Opfern des SED-Regimes durch Staatsminister Rolf Schwanitz verbesserte Entschädigungen in Aussicht stellte. Was für ein Timing: Für die einen der süße Bonbon, für die anderen ein paar Brosamen. Die verkündete Anhebung der Kapitalsentschädigung auf 600 Mark je Haftmonat bedeutet im Klartext, daß ehemalige politische Häftlinge, die seinerzeit vom Westen freigekauft wurden, nunmehr eine Nachzahlung von 300 Mark je Monat erhalten. Jene, die bis zum Zusammenbruch in der DDR verblieben und nach ihrer Rehabilitierung 550 Mark je Haftmonat erhielten, bekommen nun ganze 50 Mark pro Haftmonat dazu.

Weiterhin sollen alle Entscheidungen über die Anerkennung haftbedingter Gesundheitsschäden durch die Bundesversorgungsämter noch einmal überprüft werden. Bisher waren in 75 Prozent solcher Fälle Ablehnungen erfolgt. Für die Verschleppten jenseits von Oder und Neiße sollen zukünftig verbesserte Leistungen gewährt werden – ein begrüßenswerter Schritt, denn bei den Opfern sowjetischer Deportation handelte es sich um einige hunderttausend Mädchen und Frauen, die unter unmenschlichen Bedingungen in den sowjetischen Gulags gefangen gehalten wurden. Unerwähnt blieb freilich, daß viele dieser Frauen bis zum heutigen Tage für ihre ausgestandenen Leiden noch überhaupt nicht entschädigt wurden.

Lothar Hädicke vom Bund der Stalinistisch Verfolgten verweist darauf, daß das Karlsruher Urteil die Altkader der SED-Nachfolgepartei PDS hell aufjubeln lasse. Diese Partei werte das Urteil als einen Erfolg ihrer Politik. Tatsächlich rechnete PDS-Bundesgeschäftsführer Dietmar Bartsch seiner Partei das Verdienst für das Erreichte zu.

Horst Schüler, Sprecher der ehemaligen Workuta-Häftlinge, sieht durch das Karlsruher Urteil Zeichen gesetzt, welches die PDS zu einer härteren Gangart anspornen werde, ihre alte Politik durchzusetzen.


 
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