© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    19/99 07. Mai 1999


LOCKERUNGSÜBUNGEN
Idee Europa
Karl Heinzen

Die Europäischen Institutionen haben eine Zukunft, weil diejenigen, die es sich in ihnen gut ergehen lassen, den Bürger keine Verachtung spüren lassen. Manche von ihnen werben sogar damit, den Willen der Menschen zu repräsentieren – das müßten sie nicht tun, wenn Europa nicht auf demokratischer Grundlage stünde. Wo gewählt wird, da geht es auch mit rechten Dingen zu: Je größer der Haushalt der Europäischen Union wird, desto mehr wird dieser Grundsatz zu beherzigen sein. Sollte die Steuerhoheit dereinst auch in Brüssel anzutreffen sein, wird man dem Europäischen Parlament eine Mitverfügung kaum verweigern können. So hat Demokratie schon einmal angefangen.

Bislang ist diese Versammlung von der stattlichen Größe des Deutschen Bundestages berechtigt, an zwei verschiedenen, hübsch hergerichteten Orten zusammenzukommen und in Schaukämpfen mit Kommission und Rat den kürzeren zu ziehen. Darin liegt sein Charme und ein gutes Stück seiner Bürgernähe: Das gewählte Mitglied des Europäischen Parlaments ist per saldo nicht einflußreicher als der Bürger, der es wählt. Nicht einmal sein Berufsbild ist, wenn man noch einen Rest an Interesse für die Selbstverwirklichung am Arbeitsplatz aufbringt, so attraktiv, daß Neid legitim wäre: Man muß nicht Europarlamentarier sein, um mit kleinen Betrügereien durchzukommen. Die Gesellschaft fühlt sich ungestörter, wenn die Politik keine sittliche Vorbildfunktion für sich reklamiert. Wer nicht frohen Mutes und trickreich für sich und die Seinen zu sorgen weiß, kann kaum erwarten, daß man ihm Vertrauen für die Wahrung der Interessen von Menschen entgegenbringt, die ihm fernstehen.

Noch ist das Europäische Parlament frei von der Bürde der Entscheidungen des Alltags, die – das lehren die leidvollen Erfahrungen in allen Mitgliedstaaten – kein Detail außer Acht lassen. Da man hier Interessen sowieso nicht wirksam vertreten kann, ist man in der glücklichen Lage, sie sich gar nicht erst zu eigen machen zu müssen. man hat den Kopf frei, um über das Wunder der eigenen politischen Existenz zu räsonnieren. Diese Schwebelage allein schon prädestiniert das Europäische Parlament dazu, Träger der Europäischen Idee zu sein.

Wer ihm angehören möchte, sollte daher so schauen und so reden, als würde er sich um das Amt des Bundespräsidenten bewerben. Polarisierung ist unangebracht, wo es um Zukunftsentwürfe und nicht um Wege geht. Am Ausgang der Säkularisierung und nach einem Jahrhundert vergeblicher Kriege verbleibt Europa als die vorletzte Hoffnung, auf die sich die Deutschen verständigen können. Da verschwimmen alle Parteiungen, da wird gemeinsam die Idee gegen die Realität verteidigt, ohne darüber deren ideellen Kern zu leugnen. Dieses Europa sollte uns unser Geld wert sein. In ihm kulminieren alle ausgewogenen Sehnsüchte unserer Zivilisation. Wer kann sich da noch wundern, daß den Menschen der triviale Pragmatismus der Nationalstaaten nicht mehr schmeckt?


 
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