© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    17/99 23. April 1999


Literatur: Zum 100. Geburtstag von Vladimir Nabokov
Ein ästhetisches Glück
Werner Olles

Vladimir Vladimirowitsch Nabokov wurde am 23. April 1899 in Sankt Petersburg als Sohn einer wohlhabenden großbürgerlichen Familie geboren. Der Vater war Jurist und Politiker. Der junge Mann, der dem Bolschewismus ablehnend gegenüberstand, emigrierte 1919 und studierte an der Universität von Cambridge französische Literatur und Insektenkunde. Anfang der 20er Jahre siedelte er nach Berlin über. Seine literarische Karriere begann er als Lyriker. Eklektizismus und eine virtuose Verskunst charakterisierten seine Gedichte, die in drei Bänden veröffentlicht wurden. 1926 erschien der erste Roman: "Maschenka" (dt. Sie kommt, kommt sie), 1928 folgte "Korol, Dama, Walet" (dt. König, Dame, Bube), 1930 "Lushina" (dt. Luschins Verteidigung).

In den Kreisen der russischen Emigration stießen seine Werke zunächst auf scharfe Kritik. Fast einstimmig sprach man hier vom "nichtrussischen Stil", einer fehlenden Komposition und Brillanz und einem Mangel an innerer Teilnahme gegenüber seinen Romanfiguren und der Handlung. Ungeachtet dieser – zum größten Teil ungerechtfertigten – Kritik veröffentlichte Nabokov zwischen 1930 und 1940 eine Reihe weiterer Romane unter dem Pseudonym Vladimir Sirin: "Sogljadataj" (1932), "Kamera obskura" (dt. Gelächter im Dunkel, 1934), "Otschajanie" (1936), "Dar" (1936), "Priglaschenije na kasn" (1938). Außerdem erschienen zahlreiche Dramen, Erzählungen und Gedichte.

Nabokov lebte seit 1937 in Paris, die Kritiker verglichen seine Werke nun mit Marcel Proust und Franz Kafka, lobten die Virtuosität seines Stils und die Originalität der Behandlung des Themas. Tatsächlich erinnerten die halb realistischen, halb symbolistischen Motive der schöpferischen Erinnerung an Kafkas "Prozeß", aber auch an Giraudox und den deutschen Expressionismus. Die ungeheuer sinnliche Sprache des Dichters, verbunden mit einer außergewöhnlichen kühnen Vision der Welt und Sicht des Lebens, machte das Wesentliche der Dichtkunst Nabokovs aus. Oft ist der Protagonist selbst ein Dichter, und das Hauptthema besteht in der Problematik des künstlerischen Schaffens und in der Verbindung dieser Kunst mit den Menschen, die den Dichter umgeben.

1940 ließ sich Nabokov in den Vereinigten Staaten nieder. Seitdem schrieb er seine Werke in englischer Sprache und verzichtete auf sein Pseudonym. 1941 entstand der Roman "The Real Life of Sebastian Knight" (dt. Das wahre Leben des Sebastian Knight), 1947 "Bend Sinister" (dt. Das Bastardzeichen) und die Erzählungen "Nine Stories". 1951 erschienen seine Memoiren "Conclusive Evidence" (dt. Das andere Ufer) und 1955 jener legendäre Roman, mit dem er endgültig und unwiderruflich zu Weltruhm gelangte: "Lolita".

Das Buch, das zunächst in Paris herauskam und erst drei Jahre später in den USA erscheinen konnte, war ebenso umstritten wie kommerziell erfolgreich. Von der Mehrheit der Literaturkritiker als Meisterstück begrüßt, erzählt er die Geschichte einer pikanten Affäre zwischen einem vierzigjährigen Mann und einem zwölfjährigen Mädchen, jenem unschuldig-lasziven Nymphchen Lolita, das dem armen Humbert Humbert den Kopf verdreht und ihn ins Unglück stürzt. Allgemein galt "Lolita" in den 50er Jahren als Wagnis eines modernen Romans über die Liebe, die man heute wohl als "amour fou" bezeichnen würde. Im Nachwort der amerikanischen Ausgabe hat der Dichter sein literarisches und ästhetisches Credo dargelegt: "Ein literarisches Werk hat für mich Existenz insoweit, als es mir ästhetisches Glück gewährt, das Gefühl eines Zustandes, in dem Kunst (Neugier, Zärtlichkeit, Freundlichkeit, Ekstase) bestimmend ist. Es gibt nicht viele solcher Bücher. Der Rest besteht aus aktuellem Geschwätz oder aus sogenannter Ideenliteratur..."

Eine bedeutende tragikomische Charakterschöpfung gelang Nabokov 1957 mit dem Roman "Pnin", der von den Mißgeschicken eines russischen Emigranten erzählt, der in Amerika Universitätsprofessor geworden ist. Ein Jahr später erschienen die Erzählungen "Nabokov’s Dozen", 1959 "Poems" und 1962 der Roman "Pale Fire", in deutscher Sprache ferner "Frühling in Fialta".

1961 verließ Vladimir Nabokov die USA und residierte seitdem im Grand Hotel in Montreux. Hier führte er das elegante, aber recht beschauliche Leben eines Dandys und Grandsigneurs, privatisierte und genoß seine letzten Jahre in vollen Zügen. Im Alter von 78 Jahren starb er im Juli 1977 in seiner Residenz.


 
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