© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    17/99 23. April 1999


Kolumne
Politische Kultur
von Klaus Motschmann

Zu den derzeit typischen Merkmalen unserer politischen Kultur gehört die stillschweigende Hinnahme offenkundiger Widersprüche zu allem, was bislang verbindliche Norm emanzipatorisch-kritischen Denkens und politisch verantwortlichen Handelns war. Das "Hinterfragen" ist völlig aus der Mode gekommen. Nicht nur das! Zu bestimmten Entscheidungen und Entwicklungen werden kaum noch ganz naheliegende Fragen gestellt. Man fühlt sich mehr und mehr an die Grundsätze der "Parteilichkeit des Denkens" unseligen Angedenkens erinnert, das sich durch eine klare Absage an jeglichen "Objektivismus" und Anpassung an ideologisch verordnete "Generallinien" definierte.

Jüngstes Beispiel für die freiwillige Selbstkontrolle des eigenen Denkens und Handelns in diesem Sinne sind die öffentlichen Reaktionen auf ein landesweites "Aktionsbündnis gegen Fremdenfeindlichkeit", das auf eine Initiative der EKO Stahl AG in Eisenhüttenstadt zurückgeht und dem sich mehrere Unternehmen angeschlossen haben. Es zielt darauf ab, Arbeitnehmern nach Beteiligung an fremdenfeindlichen Straftaten zu kündigen, auch wenn sie außerhalb des Betriebes erfolgen. Mit der Kündigung von zwei Lehrlingen aus diesem Grunde wurde auch gleich ein Exempel statuiert und damit die Entschlossenheit sowohl der Unternehmensleitung als auch des Betriebsrates unterstrichen, im "Kampf gegen rechts" nun auch das Mittel des Berufsverbots einzusetzen. Die politisch disziplinierenden Absichten dieser Entscheidung werden auch gar nicht bestritten. Sie zielen offensichtlich nicht nur auf die Arbeitnehmer, sondern wohl mehr noch auf die Arbeitgeber ab. So wurde vom DGB-Bezirksvorsitzenden Scholz bemängelt, daß in den Betrieben Brandenburgs bei rechten Tendenzen "zu oft weggeguckt wird".

Diese Machenschaften in der Verfassung und im Arbeitsrecht nicht vorgesehener "Hüter der Verfassung" bzw. der Betriebsverfassung stehen in einem ganz offenkundigen Widerspruch zu allem, was "Aktionsbündnisse" Jugendlichen erklärt und durchgesetzt haben – erklärte Verfassungsfeinde eingeschlossen. Das "Aufbegehren der unruhigen Jugend" und ihre "unbequemen Fragen" müsse man "argumentativ, nicht administrativ" lösen, nicht durch den Staatsanwalt und die Polizei, sondern durch Lehrer und Sozialarbeiter, Publizisten und Jugendpolitiker. Die Stärke des demokratischen Rechtsstaates erweise sich gerade in dieser Fähigkeit der Vertrauensbildung. "Lieber 20 Verfassungsfeinde im öffentlichen Dienst als 20.000 verunsicherte Jugendliche", ließ ein Ministerpräsident vernehmen. Und nun dies! "Erkläret mir, Graf Oerindur, diesen Zwiespalt der Natur."


 
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