© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    15/99 09. April 1999


Serbisch-orthodoxe Kirche: Interview mit dem Priester der Berliner Gemeinde, Dragan Sekulic
Nicht auf Rache sinnen
Karl-Peter Gerigk

Welche Rolle spielt die orthodoxe Kirche für das Selbstbewußtsein der Serben?

Sekulic: Wesentlich ist erst einmal, daß wir alle Christen sind, ob katholisch, evangelisch oder orthodox. Doch bei uns kommt hinzu, daß wir bei unserer Kirche keinen Papst kennen. Die orthodoxe Kirche ist wesentlich mehr auf das Volk konzentriert als die des Papsttums, und sie hat eine ganz andere Struktur. Sie ist verwoben mit dem Volk, da die Menschen in Rußland, Bulgarien oder Griechenland diese Kirchen als ihre eigene ansehen. Die Patriarchen haben einen großen Einfluß in Glaubensfragen. Sie sind aber untereiander gleichgestellt. Nur der Patriach von Konstantinopel hat traditionell eine herausgehobene Stellung. Aber das Gemeindeleben wird von den einzelnen Kirchen autonom gestaltet. Das ist auch ganz wichtig für Serbien. Denn die Mitglieder der orthodoxen Kirche in Serbien sind nun einmal Serben. Die serbische Kirche muß sich also am ehesten um die Menschen kümmern, die zu ihrer Kirche gehören. Das sind zu 90 Prozent Serben. Das bedeutet, daß die serbische Kirche die Pflicht hat, sich um die Sorgen und Bedürfnisse des eigenen Volkes zu kümmern.

Wie sieht das in Ihrer Gemeinde in Berlin aus?

Sekulic: Auch hier sind wir zu 90 Prozent Serben und nur wenige Deutsche. Aber selbstverständlich habe ich auch eine seelsorgerische Pflicht, mich um die Deutschen und Gläubigen anderer Nationen zu kümmern. Viele denken, die orthodoxe Kirche sei eine nationale oder nationalistische Kirche. Aber wir müssen alle in unseren Glauben integrieren, die das wollen und uns eben um alle orthodoxen Christen in unserer Gemeinde kümmern.

Den Priestern in Serbien hat man vorgeworfen, sie seien nationalistisch und würden die Menschen aufstacheln.

Sekulic: Das ist so nicht richtig. Nach dem Kommunismus hat in allen Ländern des Ostblocks die Kirche eine große Rolle gespielt beim Umbruch und bei denVersuchen der Reform. Die jetzige religiöse Freiheit führt dazu, daß man mehr religiöse Gefühle zeigen kann als unter der Herrschaft der Kommunisten. Das bedeutet jedoch nicht, das die orthodoxen Priester extrem seien. Vielleicht hat ein Priester ein stärkeres Temperament als ein anderer. Aber ich denke nicht, daß die Priester die Situation anheizen. Aber die Kirche hatte immer Sorge, ob der Glaube den Kommunismus auch überlebt – und das ist in den jetzigen wirren Zeiten auch nicht anders. Der Priester hat immer seine religiösen Aufgaben erfüllt. Aber in der jetzigen Situation ist es wichtig, die Verbundenheit mit und die Liebe zum Volk auch zu beweisen. Die Politiker haben immer versucht, diese Nähe zwischen den Kirchen und der Bevölkerung auszunutzen. Deshalb wird die serbisch- orthodoxe Kirche auch als eine völkische Kirche bezeichnet. Aber wir machen nichts anderes als unter dem Kommunismus und in den Jahrhunderten vorher. Wir sorgen uns um die Menschen in unseren Gemeinden.

Jetzt leben im Kosovo viele Angehörige des Islam – und das Kosovo mit seinen vielen orthodoxen Klöstern wird als die Wiege des Serbentums bezeichnet. Bietet das nicht außerordentlichen Konfliktstoff?

Sekulic: Die Außeinandersetzung zwischen den Albanern im Kosovo und den Serben ist sicherlich nicht religiös motiviert. Wir sind Christen – und wir wollen auf der Grundlage des heiligen Testamentes leben. Alle Völker und alle Menschen sind die Kinder eines Gottes. Wir sagen immer, unser Patriarch und unsere Bischöfe sagen immer, es gibt im Kosovo genügend Platz für alle, die dort leben wollen: Für die Türken, für die Albaner, für die Sinti und Roma und auch für die Serben.

Denken Sie, nachdem aus Bulgarien und Rußland die Serben durch Söldner unterstützt werden, könnte es auch zu einer Koalition der mehrheitlich islamischen Staaten Albanien und Türkei auf der anderen Seite kommen?

Sekulic: Nach der Bombardierung Serbiens ist die Situation sehr kompliziert. Wir, meine Brüder und ich, denken, daß dieser Konflikt schon lange nicht mehr lokal oder auch regional ist. Es ist ein Spiel der Weltmächte, der irdischen Götter, die gottlos geworden sind, da sie Krieg und Verwüstung bringen. Und dies zum dritten Mal in diesem Jahrhundert über das serbische Volk. Wir kennen die Pläne dieser falschen Götter nicht – aber wir zweifeln daran, daß dies wirklich Gottes Wille sein kann. Die Menschen fragen sich, wo ihre Schuld liegt. Ich kann das den Menschen auch nicht erklären.

Welche Bedeutung hat das Kosovo für das Selbsverständnis Serbiens und der serbisch-orthodoxen Kirche?

Sekulic: Dieser Teil Serbiens ist heiliges Land für uns. Es ist die historische Wiege Serbiens und des Glaubens. Es ist tief in unserer Seele verwurzelt, und schon die Kinder lernen im Kindergarten die Lieder von der Bedeutung dieses Landes mit vielen Klöstern und dem Ort für die Inthronisation unseres Patriarchen. Noch vor dreißig Jahren war das allen Menschen bekannt. Aber heute ist es nicht mehr aktuell, daß dieses Land einmal weitgehend in klösterlichem Besitz war.

Sind schon Männer aus Ihrer Gemeinde zurückgekehrt, um in Serbien für Milosevic zu kämpfen?

Sekulic: Nein. Wir organisieren hier nur humanitäre Hilfe und fordern auch befreundete Familien auf, uns mit Medikamenten, Nahrung und ähnlichem zu unterstützen. Aber die Länder, die hier alles zerstören, müssen auch alles wieder aufbauen und uns helfen. In Bosnien-Herzegowina haben die gleichen falschen Götter Zerstörung gebracht und müssen sich jetzt mit den Konsequenzen auseinandersetzen. Was wir dort haben, ist immer noch keine Lösung. Moslems, Kroaten und Serben müssen dort friedlich zusammenleben. Bosnien ist eine multikulturelle und multireligiöse Region. Sie können dort zusammenleben.

Erwarten Sie auch Flüchtlinge aus Serbien für Ihre Gemeinde?

Sekulic: Die Menschen in Serbien hatten kaum Grund, ihr Land zu verlassen.Die Serben aus dem Kosovo und Methochia flüchteten erst vor der UCK und jetzt vor den Nato-Bomben, aber vorwiegend nach Serbien. Die Albaner gehen ja auch zuerst in ihr Mutterland – nach Albanien. Ich habe nur von Flüchtlingen aus Albanien gehört – was mich allerdings wundert, denn die Heimat der Albaner ist doch Albanien.Nach Mitteleuropa ist es weiter. Es sind auch praktische Probleme, warum die Serben nicht nach Deutschland kommen, wie Visa und Pässe. Beim Krieg in Bosnien sind die meisten Flüchtlinge nach Serbien gekommen, aber mir scheint es so, als wäre dies geplant.

Was haben Sie Ihrer Gemeinde zu dem Krieg im Kosovo gesagt?

Sekulic: Die Menschen in der Kirche heute abend waren in irgend einer Weise alle vom Krieg betroffen. Ein Großteil ihrer Familien lebt im Kosovo oder Zentralserbien. Wir organisieren zur Zeit jeden Abend einen Gottesdienst für die jüngsten Opfer der Nato-Luftangriffe. Ich wollte durch meine Predigt den Menschen Kraft geben, die für sie schwierige Zeit zu überstehen. Die Menschen brauchen Hoffnung. Wir beten, daß wenn die Bomben fallen müssen, es möglichst wenig Opfer gibt. Wir sind alles Christen, wir müssen vergeben und nicht nach Rache sinnen. Heute abend habe ich über die neue Weltordnung gesprochen. Ich habe gesagt, daß, wenn die neuen Mächte diese neue Weltordnung ohne Gott einrichten wollen, sie die Apokalypse schaffen. Der Krieg auf dem Balkan ist schon solch ein Chaos, das diese falschen Götter angerichetet haben.


 
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