© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    15/99 09. April 1999


Kolumne
Ernstfall
von Klaus Hornung

Im Monat seines fünfzigjährigen Bestehens steht das Nordatlantische Bündnis nicht nur zum ersten Mal im Kampfeinsatz, sondern auch in einer politischen Krise. War es schon schwer genug gewesen, die Allianz auf "Militärschläge" aus der Luft zu einigen, so zeigt sich jetzt bei der Frage nach einem eventuell notwendigen Einsatz von Bodentruppen das ganze Ausmaß des Dilemmas der konsumgesellschaftlichen Demokratien des Westens, wenn sie auf einen Gegner treffen, der den Ernstfall nicht scheut.

Jahrelang hatte man bei uns getönt "Der Frieden ist der Ernstfall" (Gustav Heinemann). Der erhobene Menschenrechts-Zeigefinger gehörte gewissermaßen zur Grundausstattung deutscher Politiker, selbst gegenüber China mit seinen 1.300 Millionen Bewohnern, die freilich darob mit asiatischer Gelassenheit lächeln dürften. Ein gewisser Unernst war dabei nicht zu verkennen, im Schoße des Großen Bruders war ja gut ruhen. Und im Falle Rest-Jugoslawiens mochte man die dortigen vier Milliarden Dollar Militärausgaben gegenüber den 400 Milliarden der Nato in Rechnung stellen. Der "Staat der Industriegesellschaft" (Ernst Forsthoff) in Deutschland huldigte dem Autismus einer ideellen Welt und verhüllte sein Haupt vor der praktischen politischen Vernunft, die den Ernstfall aus ihrem Kalkül nicht ausschließen darf. Nun zeigt sich zum ersten Mal seit 1945 den Deutschen wieder eine existentielle Wahrheit, die sie jahrzehntelang als militaristisch, vordemokratisch oder was immer leugneten, belächelten oder verketzerten. Josef Fischer und die Seinen fühlten sich über die Lehren eines Carl von Clausewitz oder gar des Gottseibeiuns Carl Schmitt himmelhoch erhoben. Nun müssen sie alte historisch-politische Wahrheiten erst wieder mühsam buchstabieren lernen, etwa daß Friedfertigkeit der einen Seite Frieden nicht garantiert, sondern leicht auf den abschüssigen Weg zur Kapitulation führen kann. Die Fundamentalpazifisten beginnen das soeben wieder zu empfehlen.

Sterben für das Kosovo? Man kann mit Otto von Bismarck der Meinung sein, daß es "nicht die Knochen eines einzigen pommerschen Grenadiers" lohne. Hat man sich aber für Bündnis- und Politikfähigkeit entschieden, dann sollte man den Konsequenzen in die Augen blicken. Und der vielzitierte Primat der Menschenrechte kann sich als alles andere denn eine Friedensgarantie erweisen, wie wir soeben belehrt werden. Mit anderen Worten: Wir stehen mitten in einem Lehrstück, möglicherweise an einer historischen Zäsur, vor der Frage, ob wir Europäer noch dem Ernst der geschichtlichen Existenz gewachsen sind. Auch Samuel Huntington prophezeiht uns, daß das 21. Jahrhundert nicht nur gemütlich werden wird.


 
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