© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    14/99 02. April 1999


Der Ernstfall
von Hans Brandlberger

Das Eigenlob, mit dem die Nato ihr fünfzigjähriges Jubiläum begehen möchte, muß umgeschrieben werden. Bis Ende April ist Zeit, um den Fortgang des serbischen Zwischenfalls abzusehen und die gemeinsame Sprache wiederzufinden. Dann nämlich, knapp drei Wochen nach dem eigentlichen Stichtag am 4. April, will die Allianz den Washingtoner Gipfel zu einer Feierstunde nutzen – und das erstmals im Kreise von nunmehr 19 Mitgliedern.

Letztlich dürften es aber nur Nuancen sein, um die das Selbstbild des Bündnisses zu korrigieren ist: Es ist weiterhin zutreffend, daß die Nato heute in erster Linie als ein politisches und weniger als ein militärisches Bündnis verstanden werden möchte. Man wird diesen Wandel im Augenblick aber nur schwer einer Öffentlichkeit vermitteln können, die sich mit dem lüsternen Gedanken die Zeit vertreibt, auf dem Balkan bahne sich die Wiederholung von unheilvoller Geschichte an. Man wird weniger euphorisch und weniger laut von der Nato als dem erfolgreichsten Friedensbündnis der Geschichte sprechen.

Man wird aber nicht an der Bilanz rütteln können und wollen, daß die Allianz bislang nicht allein ihren Zweck erfüllt hat, sondern nebenbei auch noch ein historisches Ziel erreichen konnte: die Entmachtung und Zerschlagung des gegnerischen Blocks von einst.

Das Erfolgsgefühl erfüllt die Nato seit knapp einem Jahrzehnt. Es ist unterdessen eine Hilfslegitimation für die Fortexistenz der Allianz über das Ende des Kalten Krieges hinaus geworden – eine schwache allerdings, da der Verdacht nicht auszuräumen ist, daß hier Gegenwart und Vergangenheit miteinander verwechselt werden. Die alte Nato sonnte sich in den Wendejahren im Triumph. Die Öffnung des Eisernen Vorhanges, das Ende kommunistischer Regime, die Auflösung des Warschauer Paktes, der Zerfall der Sowjetunion – an all dem fühlte man sich maßgeblich beteiligt. Sogar die deutsche Wiedervereinigung war man gerne gewillt, unter den Erfolgen der Allianz zu verbuchen: Das Deutschland, das entstand, war schließlich nicht mehr mit jenem zu identifizieren, dessen Verhinderung die Nato im Hinterkopf stets mit bedacht hatte.

Die "neue Nato" nun verfolgt Ziele, die ambitiöser sind und mit geringerem Risiko durchkreuzt werden können. Die Selbstbehauptung im Kalten Krieg war nur durch militärische Mittel in Frage zu stellen. Der Anspruch, einer neuen euro-atlantischen Sicherheitsarchitektur den Stempel aufzudrücken, läßt sich bereits dadurch erschüttern, daß man der Allianz ihre Autorität und Kompetenz aberkennt und sich einer Zusammenarbeit verweigert. Partnership for Peace kann nicht herbeigebombt werden. Die Führungsrolle der Nato in der europäischen Zukunftsgestaltung ist aber gerade auch innerhalb des Bündnisses umstritten: Dieses liegt hier in unausgesprochener Konkurrenz mit der OSZE und der EU. Doch dies sind offene Fragen der Gegenwart: Sie können die historische Leistung der Nato nicht schmälern.

Die Herausforderung, der sie in den ersten vier Jahrzehnten ihres Bestehens gegenüberstand, ist bereits der Lage zu entnehmen, in die hinein sie gegründet wurde: Die Blockade, die die Sowjetunion vom 24. Juni 1948 bis zum 9. Mai 1949 über die drei wesentlichen Sektoren Berlins verhängt hatte, gibt den zeitlichen Rahmen ab, innerhalb dessen sich das Bündnis formiert. Belgien, Frankreich, Großbritannien, Luxemburg und die Niederlande, die sich bereits im Brüsseler Vertrag im März 1948 nicht zuletzt auch zu kollektiver Selbstverteidigung verpflichtet haben, finden zu einer Übereinkunft mit den USA und Kanada über eine nun die ganze nordatlantische Hemisphäre abdeckende Verteidigungsorganisation. Anfang 1949 werden Dänemark, Island, Italien, Norwegen und Portugal dazu bewegt, sich an diesen Bemühungen zu beteiligen. Am 4. April 1949 wird der Nordatlantikvertrag in Washington von zwölf Staaten unterschrieben. Drei Jahre später stoßen Griechenland und die Tükei zur Nato.

Die sowjetische Politik führt in den 50er und 60er Jahren in schneller Folge vor Augen, wie berechtigt das Bündnis als Daseinsvorsorge des Westens ist. Der Korea-Krieg und die Niederschlagung der Aufstände in der DDR, in Polen, Ungarn und der CSSR sind zwar allesamt nicht darauf angelegt, den Bündnisfall herbeizuführen. Die Öffentlichkeit sieht aber die Erfahrungen bestätigt, die im Zweiten Weltkrieg mit der Sowjetunion als kriegführender Macht gesammelt wurden. Eine Atmosphäre des Vertrauens will nicht aufkommen.

Auch die Bundesrepublik widersteht der Verlockung, den Aufbau von Streitkräften und deren Integration in das westliche Bündnis als Verhandlungsmasse für eine etwaige Lösung der deutschen Frage zu betrachten. Kaum als souverän deklariert, nutzt sie ihre neuen Spielräume und tritt der Nato am 9. Mai 1955 bei. Die Sowjetunion schließt wenige Tage später mit ihren Satellitenstaaten – Polen, der CSSR, der DDR, Bulgarien, Rumänien, Ungarn und damals auch noch Albanien – den Warschauer Vertrag als neuen kollektiven Rahmen für all das, was bis dahin bilateral geregelt war. Damit ist jene Mächtekonstellation institutionalisiert, die in Europa 35 Jahre Bestand haben soll und nicht nur deutschen Gemütern so viel Stabilität vermittelt, daß alle Anzeichen ihres Niedergangs in den 80er Jahren übersehen werden.

Die Nato bot über die Eindämmung der östlichen Bedrohung hinaus den geeigneten Rahmen, um das erwünschte Potential und das diplomatische Eigengewicht der nicht länger unter ein demütigendes Kuratel zu stellenden Bundesrepublik berechenbar zu halten. Bonn wiederum war gar nicht darauf aus, eigene Interessen abseits des Westens zu definieren, sondern sah diese in der Allianz gut aufgehoben. Sie erst gab durch die im Vertrag festgeschriebene gegenseitige Beistandsverpflichtung die ausreichende Gewähr dafür, daß die Westmächte – und hier insbesondere die USA – im Falle einer östlichen Aggression gegen das bundesdeutsche Territorium tatsächlich einschreiten würden. Im Ergebnis hieß dies: Kriegsverhindertung durch die erklärte Bereitschaft, einem Krieg notfalls nicht aus dem Weg zu gehen. Das Konzept ging voll auf, weil der Gegner dann doch nicht jene Risikoverachtung an den Tag legte, die ihm zur Motivierung eigener Anstrengungen unterstellt werden mußte.

Die sicherheitspolitischen Überlegungen kreisten um die Frage nach der Glaubwürdigkeit westlicher Abschreckung. Nicht allein das Militärpotential war hier zu bewerten, sondern auch die politische Bereitschaft, es gegebenenfalls wirklich zu nutzen. Da die konventionelle Überlegenheit des Warschauer Paktes einen sehr frühen Einsatz nuklearer Waffen zur Abwehr eines östlichen Angriffs verhieß, lautete die Frage in ihrer zugespitzten Form: Werden die USA zur Wahrung ihrer Interessen in Europa einen Atomkrieg riskieren, der auch ihr eigenes Territorium in Mitleidenschaft ziehen könnte? Zweifel kamen hier auf, ob das vertragsmäße Kopfnicken der Amerikaner auch dann noch zu beobachten wäre, wenn es denn zum Schwur käme, und jedesmal hat die Allianz den Ausweg gefunden.

Sie hat Mitte der 60er Jahre den Wandel von der Strategie der flexiblen Reaktion vollzogen, als das nukleare Patt nicht mehr zu übersehen war. Sie hat an der Wende der 70er zu den 80er Jahren gegen alle massiven Widerstände in zahlreichen Mitgliedsländern den Nachrüstungs-Doppelbeschluß durchgesetzt und damit die sowjetischen Bemühungen vereitelt, einen sicherheitspolitischen Keil zwischen die USA und ihre europäischen Partner zu treiben. Die Hysterie, mit der eine sowjetisch inspirierte Linke dank Pershing II und Cruise Missiles einen Dritten Weltkrieg heraufziehen sah, spiegelte die sowjetische Absicht wider, diesen – so entschieden wie verzagt – lieber doch nicht zu führen, obwohl er die letzte Chance gewesen wäre, den Ideen von 1917 Respekt zu verschaffen. So blieb die Bundesrepublik bis zum Ende des Kalten Krieges davor bewahrt, die Bündniswahl bedauern zu müssen.

Die Nato hat sich auch im Sieg kaum zu Fehlern hinreißen lassen. Sie stellte sich rasch auf die neue Lage ein und versuchte, die Beziehungen zu der nunmehr nicht mehr kommunistischen Staatenwelt des Ostens auf eine Grundlage zu stellen. Mit dem Euroatlantischen Partnerschaftsrat (EAPR) und dem Programm Partnerschaft for Peace (PfP) wurden nicht nur Gesprächskontakte und Begegnungen institutionalisiert, es wurde auch Einfluß auf die Neugestaltung und -prägung der Streitkräfte in den "jungen Demokratien" genommen und die Zusammenarbeit in Einsätzen des Typs IFOR/SFOR trainiert. Sonderbeziehungen zu Rußland wurden akzeptiert, ohne darüber blind für unüberbrückbare Interessengegensätze zu werden. Die Erweiterung der Nato um Polen, Ungarn und die Tschechische Republik dokumentiert ein Gespür für wohldosierte vollendete Tatsachen.

Die Souveränität im Umgang mit solchen Rest-fragen der Vergangenheit verliert sich, sobald der Blick von diesen auf die "neuen Herausforderungen" gerichtet wird, nach denen die Nato eher sucht, als daß sie schon wüßte, wie ihnen zu begegnen wäre. Die Allianz war aber in der Vergangenheit zu erfolgreich, um sie schon zur Disposition zu stellen, bloß weil man einen Moment lang über ihren Zweck im Unklaren ist. Täuschen darf man sich jedoch nicht: Was als Attraktivität der Nato gilt, ist nicht mehr als Vertrauen darauf, daß sie ihre Interessen notfalls auch mit militärischen Mitteln durchzusetzen vermag. Dies ist es, was für sie in Serbien vor allem anderen auf dem Spiel steht.


 
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