© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    14/99 02. April 1999


Rudolf Kassner: Religion und Mystik
Der ewige Gottsucher
Werner Olles

Rudolf Kassner wurde am 11. September als Sohn eines deutschstämmigen Fabrik- und Gutsbesitzers in Groß-Pawlowitz geboren. Seit frühster Jugend durch eine Kinderlähmung gesundheitlich schwer beeinträchtigt, unternahm er dennoch ausgedehnte Reisen und erwarb sich umfassende Kenntnisse auf den verschiedenartigsten Gebieten des Geisteslebens.

Schon als junger Mann beherrschte er mehrere Fremdsprachen fließend und unterhielt weitverzweigte Beziehungen zur kulturellen und geistigen Elite ganz Europas. Am bedeutendsten war wohl seine enge Freundschaft mit Rainer Maria Rilke, dessen rabiate Antichristlichkeit Kassner gleichwohl nicht teilte.

1900 erschien seine Erstlingsschrift "Die Mystik, die Künstler und das Leben". Sie stand noch ganz unter dem Einfluß Nietzsches und eines neoromantischen Ästhetizismus.

Sein Abwendung von diesen Einflüssen erfolgte, als Kassner die Tiefe und Schönheit des altindischen religiösen Schrifttums entdeckte, vor allem aber, als er die quasi-jenseitig geprägte Religiosität Sören Kierkegaards kennenlernte, dessen geniale Innerlichkeit und existentielle Grundidee einer Erlösung der Welt durch den Glauben an Gott ihn faszinierte und nicht mehr loslassen solle. Kassners deutender Blick richtete sich auf alle Erscheinungsformen des Geistes.

So ist seine Schrift "Die Elemente der menschlichen Größe" (1911) als ein Versuch zu verstehen, Völker, Stände, Menschen, Religionen, Philosophien, Künste, Mythen, Wissenschaften und nicht zuletzt die Geschichte physiognomisch und mythisch in Raum und Zeit zu verorten.

Dabei weigerte sich der zwischen Dichtung und Philosophie schwebende Kassner beharrlich, die Kategorie der Kausalität anzuerkennen. In zahlreichen Essays, Dialogen, Erzählungen, kulturhistorischen Betrachtungen und längeren – oft polemisch zugespitzten – Traktaten legte er seine unverbrüchliche Gegnerschaft zu den antichristlichen Ideen Spinozas, Rousseaus und Nietzsches dar. Ihm selbst schwebte jedoch ein geistig-spirituelles Christentum vor, das er in dem deutschen Mystiker Meister Eckart oder auch in Johann Wolfgang von Goethe verkörpert sah. Gott sollte nach seiner Vorstellung von dessen "eingefleischtem Götzentum" befreit werden. Den Christus der Bibel möchte Kassner durch einen "Gottmenschen" ersetzt wissen. Dieser müßte aus den Ideen Platons und der altindischen Mystik geboren werden.

In der schwierigen Schrift "Zahl und Gesicht" (1919) ist die Terminologie derart rätselhaft-dunkel, die Sprünge von einem Gedanken zum anderen so gewaltig, daß der Vorwurf der "Undurchdringlichkeit" hier kaum noch von der Hand zu weisen ist. Sehr viel klarer sind dagegen "Narziß oder Mythos und Einbildungskraft" (1928), "Das Buch der Gleichnisse" (1934), "Der Gottmensch" (1938) und die drei Erinnerungsbücher "Buch der Erinnerung" (1939), "Die zweite Fahrt" (1946) und "Umgang der Jahre" (1949). Nach dem Kriege entstanden auch seine wichtigen – vielleicht wesentlichen – Schriften "Die Geburt Christi" (1951), "Das inwendige Reich" (1953) und "Der goldene Drachen" (1957). Kassners Hauptgegnerschaft galt inzwischen der Psychoanalyse, die seiner Botschaft der magischen Verinnerlichung völlig entgegenstand.

Er glaubte, daß die endgültige Erlösung der menschlichen Seele allein durch den nach göttlicher Verheißung strebenden Einzelnen zu erreichen sei. Dieses mythisch-dramatische Gefüge dürfe keinesfalls zerstört werden, da sonst die Verbindung mit dem Übernatürlichen und Mystischen für immer unterbrochen sei. Kassners Anhängerschaft unter suchenden Menschen aller Art und seine Versuche für die Deutschen einen neuen Bildungs- und Geisteskosmos zu begründen, haben diesen Dichter-Philosophen bis heute zu einem unvergessenen Visionär der "vollen Wirklichkeit" aus Gott, Kosmos und Mensch werden lassen.

Am 1. April 1959 verstarb Rudolf Kassner, der kurz nach dem Krieg von Wien in die Schweiz umgezogen war, in seinem Domizil in Sierre am Fuß der Berner Alpen. Noch kurz vor seinem Tod hatte sich der ewige Gottsucher als Greis von 85 Jahren endgültig und unwiderruflich mit der Kirche ausgesöhnt, um sich als Gefäß der göttlichen Gnade ganz der Liebe und Barmherzigkeit Gottes anzuvertrauen.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen