© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    14/99 02. April 1999


CD: Pop
Zeitflucht
Peter Boßdorf

Keine Verdächtigung ist unmöglich – auch das Duo Wolfsheim muß sich in die Karten gucken lassen, um Schlimmeres zu verhüten. Eine zehn Jahre alte Liedzeile, die mißverstanden werden kann, wenn man sie mißverstehen möchte. Ein geneideter, dezent düster abgetönter Hit vom fremdgehenden Sänger Peter Heppner in Kollaboration mit Joachim Witt nebst dazugehörigem Video mit einem Anflug von Eugenik und Stummfilmhorror. Und dann auch noch der Name, Wolfsheim, das klingt doch wirklich mächtig nach Führerhauptquartieren und Hitlerjungenpartisanen. Nein, so heißt es beruhigend, man hat in der Namensfindung noch ein wenig weiter zurückgegriffen und sich in F. Scott Fitzgeralds "The Great Gatsby" bedient – und in der Tat gibt es dort eine Nebenfigur des Namens Meyer Wolfsheim, die dem Erzähler Nick Carraway über jenen Jay Gatsby Auskunft erteilt.

Immerhin gibt der literarische Quellenhinweis eine gute Impression davon, mit welcher Stimmung wir es bei Wolfsheim zu tun haben. Junge Menschen, denen Tristesse einen intensiveren Selbstgenuß erlaubt, als jedes dreiste Ausschreiten ins pralle Leben hinein ihnen je anzubieten hätte. Unbeteiligt durch die Zeitläufte hindurchzuwandeln, ein Lob der Passivität: "Spectators" (Strange Ways Records/ Indigo) mag als Titel der neuen CD wie eine Verlegenheitslösung klingen, trifft das Zeitgefühl des Duos aber punktgenau. Ein Zeitgefühl von vorvorgestern im musikalischen Arrangement von gestern. Peter Heppner mag mit Jazz zwar nichts anfangen können, den Gesichtsausdruck der Generation, die diesen Namen getragen haben soll, versteht er jedoch aufzulegen, wenn man die auf uns gekommenen Chroniken – wie eben z. B. von F. Scott Fitzgerald – denn für bare Münze nehmen will. Die per se überschaubaren Abgründe scheinen sympathischer, wenn man sie mit den Klängen von Wolfsheim ausfüllt. Die Möglichkeiten des Elektro Pop sind zwar nicht unerschöpflich, Peter Heppner und Markus Reinhardt schaffen es nichtsdestotrotz, auf dieser Glatze Locken zu rollen – "Once in a Lifetime" etwa dürfte man auch noch in zehn Jahren ohne rote Backen hören können.

Noch weiter hat die künstlerische Flucht entlang der Zeitachse zwölf junge, in Großbritannien lebende Frauen zurückgeführt: Die Mediaeval Baebes fühlen sich musikalisch irgendwo zwischen dem 12. und dem 16. Jahrhundert beheimatet. Aus dieser Zeit beziehen sie einen Großteil ihres Repertoires – und fügen diesen auf ihrer zweiten CD, "Worldes Blysse" (Virgin), ununterscheidbare Eigenschöpfungen hinzu. Alle Musikerinnen sind Quereinsteiger, die Gründerin Katherine Blake beispielsweise zeichnete früher für die nie so ganz reüssieren wollende Band Miranda Sex Garden verantwortlich. Von all diesen Vergangenheiten ist außer der Koketterie mit Laszivität und ein ganz klein wenig Esoterik nicht mehr viel zu spüren; das Hexenimage ist den raren Gelegenheiten schriller PR vorbehalten. Demjenigen, der Vergleiche mit um Werk- und Zeittreue bemühten Ensembles anstellt, mag so darüber hinweggeholfen werden, daß den Mediaeval Baebes zwar gut zuzuhören ist, daß sie aber nicht echt klingen: Auch Hörgewohnheiten sind eine Machtfrage. Die zwölf Frauen sind pragmatisch und publikumsfreundlich genug, um diesen Gedankenpfad nicht weiter einzuschlagen. Sie wollen "mittelalterliche Pop-Musik" erklingen lassen. Diese Selbstbeschreibung ist zu bescheiden, als daß ihr widersprochen werden dürfte.


 
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