© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    14/99 02. April 1999


Literatur: Eine Nachbetrachtung zur Leipziger Buchmesse
Im Mittelpunkt steht der Leser
Hans-Jörg von Jena

Ausnahmsweise halten die Fernzüge, ehe sie den runderneuerten Leipziger Hauptbahnhof erreichen, auch in Wiederitzsch. Vom Messebahnhof dort sind es nur wenige hundert Meter bis zu den glasüberwölbten Hallen des Messegeländes, in denen die Buchmese jetzt zum zweiten Male stattfand. Sichtlich ist sie damit in den Rang der repräsentativen Ereignisse aufgerückt, deren Wichtigkeit sich nicht allein am Rang und der Neugier individueller Leser, sondern am Zulauf erheblicher Scharen von zugereisten Fremden orientiert. Die meisten davon kamen diesmal dennoch aus Sachsen. Von 80.000 Freikarten ist die Rede, die an den Schulen des Landes verteilt worden waren, also nutzten viele junge Menschen die Gelegenheit zu einem Ausflug oder Wandertag in die Messehallen. Dort drängelte man sich gelegentlich fröhlich lärmend. Der Freistaat hatte damit jedoch eine Idee, deren Perspektive hoffnungsvoll stimmt: aus Besuchern mögen in breiterem Maße, als es die Schule bietet oder zuläßt, Leser hervorgehen.

Am neuen Ort hat man sich, wenn nicht alles täuscht, mittlerweile halbwegs eingewöhnt. Ganz ist die Gemütlichkeit, das Kennzeichen der Buchmesse in den ersten Nach-Wende-Jahren in der Leipziger Innenstadt, nämlich nicht dahin. Die technizistische Großzügigkeit der Stahl- und Glashallen wird durch das Hin und Her der Besucherströme wünschenswert belebt. Er hat sein Gutes, daß nun alle Aussteller unter einem Dach versammelt sind. Zudem platzt diese Buchmesse noch nicht aus allen Nähten. Bislang reichen für sie drei der fünf Hallen aus. Es bieten sich durchaus Gelegenheiten für Gespräche. Manchmal trifft man an den Ständen den einen oder anderen Autor, der sich mit seinem Verlagschef oder Lektor unterhält, den aber die Besucher nicht erkennen, so daß beide ungestört bleiben.

Autoren und Vortragskünstler sind ansonsten hart gefordert. Überall gibt es Lesungen aus eigenen oder fremden Texten, und es fehlt nicht an Diskussionen über literarische und politische Themen. Skepsis und Ratlosigkeit über den Krieg im Kosovo bestimmen vielfach den Gesprächsstoff. Günter Grass, im 72. Lebensjahr allmählich der grand old man der deutschen Literatur, fand mit einigen knappen Charakteristiken aus seinem neuen Rückblickswerk "Mein 20. Jahrhundert", das im Juli erscheinen wird, viel Zulauf und Applaus.

Guter Besuch, aber schlechtes Geschäft – so lautet ein maliziöses Resume aus Verlegermund zu den Leipziger Buchmessetagen. Muß man daran erinnern, daß Geschäft nicht alles ist? Daß es nicht immer vorwiegend um Verlagsfusionen, den Wettbewerb um Bestseller oder um die Teilwertabschreibung gehen kann? Für das Kaufmännische und Fragen der Literaturstrategie wird Frankfurts Buchmesse ihren Vorrang behaupten. Leipzig setzt, und das kann in der Literatur nicht falsch sein, vor allem auf die Gewinnung von Lesern. Es ist eine sinnvolle Arbeitsteilung oder, dies zumindest, Akzentunterscheidung. Sie wird deutlich auch an der herausgehobenen Rolle, die der Antiquariatsmarkt in Leipzig spielt. Fünfzig Antiquariate präsentierten sich auf dem Messegelände, ihnen war allein eine der drei Hallen vorbehalten. Auf der Suche nach Raritäten konnte der Besucher über den gemeinsamen Katalog hinaus die Stände durchstöbern und die Besitzer befragen. Wann und wo sonst wäre das in dieser Gedrängtheit möglich?

Letztmalig hatte sich die Leipziger Buchmesse, hierin dem Frankfurter Beispiel folgend, mit Bulgarien einen Länderschwerpunkt gegeben. Demonstrativ in den Vordergrund trat er nicht. Man mußte nach ihm, trotz eines Informationsstandes in der Durchgangshalle, ein wenig suchen – und das entspricht durchaus der Stellung des liebenswerten kleinen Landes in der Weltliteratur von gestern und heute. Schon die kyrillische Schrift hält den schlendernden Besucher vom neugierigen Anblättern ab. Es scheint, als sei im Jahrzehnt, seitdem die Fesseln fielen, auch allzu weniges ins Deutsche übersetzt worden. Um eine Literatur kennenzulernen, muß man sie aber zunächst überhaupt lesen können – ganz abgesehen von jedem tieferen Verstehen. Hätte man nicht die eine oder andere Übersetzung in Auftrag geben können?

Als hilfreich erwies sich eine Ausgabe von neue literatur, die sich "Zeitschrift für Querverbindungen" nennt und in Bukarest und Frankfurt erscheint. Unter der Überschrift "Maskenspiele – Bulgarien in der Literatur" wird da eine Anzahl lebender bulgarischer Autoren vorgestellt. Interviews und Interpretationen ergänzen die Texte, und ein Beitrag von Bojko Pentschew "Die bulgarische Literatur der neunziger Jahre" gibt über die Einblicke hinaus einen Überblick. Sichtbar werden dabei die Schwierigkeiten mit der neuen Freiheit. Sie sind, wie überall, zunächst äußerer Art. Der Zusammenbruch des Zensur- und Überwachungssystems bedeutet für die Verlage wie für die Autoren des armen Landes auch das Ende jeglicher Existenzsicherung. Allerdings wird in Bulgarien nach wie vor viel gelesen, und zwar trotz der Schwemme ausländischer Importe in hohem Maße die Literatur der eigenen Sprache. Die Autoren sind zumeist von totalitär verordnetem "Realismus" in die Postmoderne gesprungen, ergeben sich den westlichen Standards der Sprachverspieltheit, allgegenwärtigen Visualisierung und unverbindlichen Privatheit. Sie bevorzugen Lyrik – aber wenn diese nicht vom einheimischen Publikum verstanden wird, bleibt sie auch in der Welt ohne Echo.


 
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