© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    13/99 26. März 1999


Jean Grondin: Hans-Georg Gadamer. Eine Biographie
Nie bekennender Nationalsozialist
Holger von Dobeneck

Schon in seinen Studienjahren legte Hans-Georg Gadamers getreuer "Eckermann" eine kenntnisreiche Monographie über den Wahrheitsbegriff Gadamers vor. Nunmehr schrieb Grondin für den 99jährigen eine autorisierte Biographie, die geschickt Leben und Werk Gadamers mit dem Zeitgeist verknüpft.

Gadamer ist so gut wie allen prominenten Geistesgrößen dieses Jahrhunderts begegnet, und so liefert diese Biographie zugleich eine Geistes- und Kulturgeschichte Deutschlands. Grondin bezeichnet das Geburtsjahr Gadamers als das Fetischjahr der Hermeneutik: Denn um 1900 starb Nietzsche, erschien die Traumdeutung Sigmund Freuds, und Wilhelm Dilthey legte eine Abhandlung vor mit dem Titel "Entstehung der Hermeneutik".

Gadamer war ein Bildungsbürger, der in der Welt der Geistigkeit und Innerlichkeit heimisch war und sich einmal ironisch rühmte, er lese nur Bücher, "die mindestens 2.000 Jahre alt sind". Eine große Prägekraft besaß der George-Kreis, dem man eine esoterisch-elitäre, ästhetisierende Weltabgewandtheit nachsagte. George bekämpfte die Verbilligung des Wissens, die Überschätzung und Steigerung alles Massenhaften und Populären. Die heute entstehende Kulturkritik an der anglisierenden Pidginisierung unserer Sprache fand hier ihren Vorläufer. In diesem Kreis fand Gadamer das Erlebnis der dichterischen Wahrheit, das zur bleibenden Inspiration seiner späteren Philosophie wurde.

Gadamer studierte zunächst Germanistik, später auch Altphilologie, Koranistik und Sanskrit und wurde ein intimer Kenner der protestantischen Theologie. Wie alle Bildungsbürger seiner Zeit war er im Kern ein unpolitischer Mensch. Die ausgeprägte Krisenerfahrung aus dem Jahre 1918 brachte ihn zu Beginn seines Reifealters zu der Überzeugung, daß "in Wahrheit die Geschichte nicht uns gehört, sondern wir gehören ihr (…), die Selbstbestimmung des Individuums ist nur ein Flackern im geschlossenen Stromkreis des geschichtlichen Lebens". Damals bildete sich Gadamers Überzeugung vom beinahe autonomen Gang der Geschichte, und dies war die Geburtsstunde der späteren These von der Wirkungsgeschichte. Die Mentoren seines geistigen Lebens waren Plato und die großen drei H: Hegel, Husserl und Heidegger. Vor allem die Freundschaft und geistige Verbundenheit mit Heidegger brachte ihm viel Feindschaft von Seiten der doktrinären Linken. Doch Gadamer war niemals bekennender Nationalsozialist. Alle diesbezüglichen Vorwürfe wies er ab mit dem treffenden Goethe-Zitat: "Wer philosophiert, ist uneins mit seiner Zeit". Seine vielen jüdischen Freunde und das prekäre Schicksal seiner zweiten Frau Käthe Lekebusch sprechen dafür beredt Zeugnis.

Wie sehr viele, die um die deutsche Kultur besorgt waren, hatte auch Gadamer zu Anfang Verständnis für die Motive Hitlers. Dies erklärt sich aus der nachvollziehbaren Angst des Bürgertums vor einer Machtergreifung der Kommunisten, deren tödliche Utopie der Säuberung in Rußland allen vor Augen stand. Die Mitschuld der Alliierten durch das unselige Versailles war ja auch consensus omnium in der Weimarer Republik. Es ist das blinde Privileg der Generation der Nichtbetroffenen, eine Gesamtsicht der Ereignisse zu besitzen, wo für die Generation der Betroffenen ein noch offener Ausgang mit vielversprechenden Anfängen stand und die Nemesis des Schicksals noch nicht vorauszusehen war.

Es liegt viel Pharisäertum in den Anklagen der Generation der 68er, die im Zeichen der politischen Korrektheit und in durchsichtiger Absicht Anklage gegen Gadamer erhoben. Dabei verkehrte er zu Zeiten des Nationalsozialismus mit dem späteren Widerständler Goerdeler, dessen Tochter Marianne seine Studentin war.

Grondin schildert auch ausführlich die Leipziger Jahre, in denen Gadamer als Rektor der Universität versuchte, unter marxistischer Observanz die Grundsätze der freien Wissenschaft zu verteidigen. Dann endlich folgt auch die Schilderung der Heidelberger Jahre, in denen Gadamer die Früchte seiner Lebensart ernten konnte und zu nicht geahntem Weltruhm aufstieg. Er erlebte gleichsam eine zweite Jugend, die ihm vor allem häufige Aufenthalte und Anerkennung in den USA und der hermeneutischen Bewegung weltweit den Durchbruch brachte. Grondins Buch wird nicht mehr wegzudenken sein aus den philosophischen Bibliotheken.

 

Jean Grondin: Hans-Georg Gadamer. Eine Biographie, J.C.B. Mohr Verlag, Tübingen 1999, 432 Seiten, 98 Mark


 
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