© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    13/99 26. März 1999


Arnaud Guyot-Jeannin (Hrsg.): Pierre Drieu La Rochelle, antimoderne & européen
Normannischer Patriot und Europäer
Jean-Jacques Mourreau

Am 15. März 1945, in seinem 52. Lebensjahr, wählte der Schriftsteller Pierre Drieu La Rochelle in Paris den Freitod. Einige Tage zuvor schrieb er in einem Brief an seinen Schüler Lucien Combelle: "Mein lieber Combelle, Sie sind ein guter Kamerad, mein letzter Kamerad. Ich hoffe, daß Sie leben werden und für das kämpfen, was wir lieben: einen stolzen, virilen Sozialismus. Was mich angeht, so stehe ich nur noch mit einem Fuß in der Politik, und mit dem anderen schon anderswo. Ich will der Figur treu bleiben, die ich Zeit meines Lebens dargestellt habe. Ich umarme Sie."

Das politische Engagement Drieus und seine bittere Ernüchterung sind in Frankreich oft genug erörtert worden. Die literarische Persönlichkeit, die zeitweise den Surréalisten nahestand und ein Freund Aragons und Malraux’ war, hatte sich in den dreißiger Jahren zum "Faschisten" erklärt. Im Jahre 1936 engagierte er sich an der Seite Jacques Doriots, schloß sich dem Parti Populaire Français an und arbeitete für dessen Zeitung, L’Emancipation Nationale. Zwei Jahre später trennte er sich von Doriot, den er im November 1942 wiedertreffen sollte.

Zusammen mit Robert Brasillach, Abel Bonnard, André Fraigneau, Marcel Jouhandeau und Jacques Chardonne war er im Oktober 1941 nach Weimar und Berlin gereist. Als Anhänger eines "europäischen Sozialismus" und einer Freundschaft mit Deutschland sah er sich in den letzten Jahren seines Lebens gezwungen, seinen Blick gen Osten zu richten, da er überzeugt war, daß Stalin die Politik der von Hitler angestrebten kontinentalen Vereinigung aufgreifen würde.

"Wie wird seine literarische Zukunft aussehen?" 1958 stellte Pol Vandromme, der Autor einer vielbeachteten Biographie, diese Frage nach dem Schicksal des Schriftstellers Drieu. Vier Jahrzehnte sind seitdem verstrichen. Drieu ist und bleibt ein heißes Eisen. 1992 erregte die Veröffentlichung seiner Tagebücher der Jahre zwischen 1939 und 1945 Aufsehen und rief erneut heftige Polemiken hervor, die ebenso niederträchtig wie inhaltsleer waren. Kurz gesagt, alles spricht dafür, daß Drieu noch "unter uns" weilt. So lautete auch der Titel eines Essays, den Jean Mabire, damals Journalist für L’Esprit Public, ihm 1963 widmete. An diesem Essay labten sich die Jugendlichen meiner Generation, die in den sechziger Jahren zur Schule gingen und Gilles, Mesure de la France ("Frankreichs Takt"), L’Homme à Cheval ("Der Reiter") ebenso lasen wie die wunderbare Récit Secret ("Geheime Erzählung"), weil er ihnen statt der Zänkereien der Zeitgenossen Hitlers und Stalins grundsätzliche Eckpunkte des Werkes entdeckte: die unverzichtbare Verbindung zwischen Handeln und Denken, das Schreckgespenst der Dekadenz sowie die europäische Dimension. Lebensnotwendige Orientierungshilfen in einem Frankreich, das seiner kolonialen Abenteuer müde war und unruhige Geister, deren Nostalgie sich weniger auf das unmittelbar Vergangene richtete als auf ein noch ungewisses Schicksal, als "Faschisten" beschimpfte...

Die Veröffentlichung einer Zitatensammlung zeigt einerseits, daß junge Leser sich auch heute noch für Drieu begeistern, verdeutlicht aber auch die Entwicklung des visionären Schriftstellers. In einer erfrischenden und gleichzeitig tiefschürfenden Einleitung schreibt Arnaud Guyot-Jeannin, selber noch keine 30 Jahre alt, zu Recht, daß Drieus "Faschismus" wenig mit der "faschistischen Doktrin" Benito Mussolinis zu tun hat. Er betont dagegen den Antimodernismus Drieus. Als Liebhaber von Heldengedichten, Kathedralen, des Ritter- und Heldentums sowie der Lebensphilosophie befand er sich in ständiger Opposition zum Staatskult. Wie Saint-Exupéry und Bernanos weigerte er sich, zum Roboter zu werden: "Die Industrialisierung verschlimmert den Schaden, den die Verstädterung anrichtet. Daß alles von Maschinen hergestellt wird, verleiht der Stadt ein immer abstrakteres, immer schrofferes Antlitz: Gefangen in der Bewegung unzähliger Maschinen, die über ihre Arbeit wie ihr Vergnügen wachen, wird sie selber zu einer riesigen Maschine. Das Leben läuft mehr und mehr auf einen Automatismus der kurzen Momente hinaus."

Arnaud Guyot-Jeannin zeichnet die spirituelle Suche Drieus unter dem Einfluß der Werke Guénons und Julius Evolas nach. Um 1927 verkündete dieser in Le Jeune Européen: "Und schließlich bin ich nicht nur Schriftsteller, ich bin ein Mensch im Banne der Gesamtfrage." Diesen wichtigen Aspekt illustriert eine Auswahl von Zitaten, der man den Vorwurf machen könnte, sie versuche, Drieu in Richtung Christentum zu "zerren". Sicherlich träumte er davon, den "vielschichtigen Heiden mit dem vielschichtigen Christen zu versöhnen" und "den Heiligen mit dem Helden zu kreuzen, den Menschen mit dem Gott". Er hat den "großen weißen Christus" der Kathedralen genauso gefeiert wie die Götter, die sich wie Christus und Dionysos opfern, denn "man muß unaufhörlich sterben, um unaufhörlich wiedergeboren zu werden". Sein Durst nach Sinn und nach dem Heiligen trieb ihn jedoch sehr viel weiter: "Ich kann weder die Vielfalt noch den Einen leugnen. Ich erkläre das Schicksal für sowohl menschlich als auch göttlich." In dem Jahr, das seinem Selbstmord vorausging, behauptete er: "Um zur wahren Vorstellung des Göttlichen zu gelangen, muß man jeden Gott aus den Augen verlieren, wie erhaben er auch sein mag." Am Vorabend seines Todes gestand er seinem Tagebuch: "Ich verbleibe im Glauben der Baghavad-Gita und des Zarathrustra: das ist meine Wahrheit, mein Credo. Der reinste und unbestimmteste Glauben, der unendliche Glauben im Herzen des Skeptizismus und der Gleichgültigkeit. Eine Art Stoizismus, losgelöst von aller Moral. Der Glauben in der Unentscheidbarkeit, jenseits von Gut und Böse, jenseits von Sein und Nicht-Sein. Die Überzeugung, daß Handeln und Nachdenken in der ewigen Minute ein und dasselbe sind, in der großen Mitte der Zeit."

Gegen die Darstellung Drieus als Europäer lassen sich keine Einwände erheben. "Zwischen Calais und Nice ersticke ich; ich möchte mich bis zum Ural ausstrecken. Mein Herz, das voll ist von Goethe und Dostojewsky, begaunert die Zollämter, verrät die Landesfahnen, setzt sich in seinen Liebesbriefen über die Poststempel hinweg (…) Ich will ein großer Mann sein und der größten Ehre der Welt Europa zum Denkmal setzen." Wie Goethe – und das ist keineswegs ihre einzige Gemeinsamkeit – wollte Drieu Zeit seines Lebens Europäer sein, sowohl aus Leidenschaft als auch aus Vernunft. Mit seltener Klarheit sah er die doppelte Bedrohung der Unterwerfung und Auslöschung: "Europa wird von dem kapitalistischen Imperialismus Amerikas und dem kommunistischen Imperialismus Rußlands bedroht."

Pierre Drieu La Rochelle, der sich als "normannischer Patriot und europäischer Patriot" betrachtete, gab sich nicht damit zufrieden, Nationalismen "als einen Aspekt des Individualismus der Moderne" zu denunzieren, sondern verkündete darüber hinaus seinen Glauben an das Genie des Europäers: "Der Europäer ist fähig, etwas Neues zu errichten, etwas Originäres und noch nie Dagewesenes, für das es mich nach einem anderen Namen verlangt als dem der Zivilisation, um ohne jeden Zweifel diesen letzten Frühling auf unserer kostbaren Spitze des Kontinents willkommen zu heißen."

Arnaud Gyot-Jeannin zufolge lehrt der Europäer Drieu Einsichten von fortdauernder Aktualität: "Europa wird sich vereinigen, oder aber es wird sich selber verschlingen oder verschlungen werden." Diejenigen Franzosen, die ihre Perspektive auf "Frankreich alleine" zusammenschrumpfen, was heute unter den Namen "französische Ausnahme" oder "Souveränismus" läuft, warnt Drieu: "Ich glaube, daß man in Europa nicht allein bleiben kann, oder wenn man sich für stark genug hält, allein zu sein, erliegt man einer Wahnvorstellung". Und weiter: "Wer sieht nicht, daß Frankreich – was auch immer die Hoffnung oder der Traum eines jeden sein mag – morgen genusowenig wie irgendein anderer Staat, genausowenig wie der Inselstaat England, genausowenig wie Deutschland diese physische Ganzheit, diese Unberührbarkeit der moralischen Konturen wird wiederfinden können, die in jenen vergangenen Jahrhunderten des Nationalismus die conditio sine qua non des Daseins der Völker ausgemacht haben?

In diesem Sinne wird es weder Gewinner noch Verlierer geben. Oder besser, es wird nur einen Sieger geben: Europa. Europa kann nicht ohne seine Vaterländer leben, mit Gewißheit ginge es unter, wenn es seine eigenen Organe zerstörte, indem es sie vernichtete: aber die Vaterländer können ohne Europa nicht leben. Aus Europa geboren, müssen sie zu Europa zurückkehren. Zu Zeiten ihres großartigen Wachstums mußten sie es zurückweisen, so wie Kinder sich auf grausame Weise von ihrer Mutter losreißen, um ihren Anteil am Schicksal zu bewältigen; aber heute müssen sie in Europa Zuflucht suchen und ihre Kräfte zurückgewinnen (…) Ihr werdet sehen, daß der Frühling der Städte und Vaterländer, der Fürstentümer und Königreiche wieder ein Ende findet; ihr werdet den Sommer der Weltreiche zurückkehren sehen."

 

Pierre Drieu la Rochelle, antimoderne & européen, herausgegeben von Arnaud Guyot-Jeannin, Perrin & Perrin (46, rue Sainte-Anne, 75002 Paris), 63 Seiten, 49 FF


 
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