© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    13/99 26. März 1999


Wolfgang Günter Lerch: Muhammads Erben
Die Doppelmoral des Westens
Kenneth Lewan

Wolfgang Günter Lerch, ein erfahrener Nahostberichterstatter für die Frankfurter Allgemeine, bemüht sich mit diesem Buch, die Vielfalt des Islam darzustellen. Dabei zieht er einige Vergleiche mit dem Westen und zeigt etwas von dessen Einfluß auf die Entwicklung in der islamischen Welt. Als Kenner der islamischen Geschichte und Philosophie fällt es Lerch nicht schwer, tiefe Einsichten in die gegenwärtige Lage zu vermitteln. Allerdings befaßt er sich nicht mit der aktuellen Frage der Muslime in Europa.

Im Mittelpunkt des Buches steht der Teil des Islam, der dem Westen die größten Sorgen macht, nämlich der Islamismus (Fundamentalismus, politischer Islam). Hierbei geht es um die Schaffung bzw. Unterstützung eines Gottesstaates. Darunter versteht man einen Staat, in dem die entscheidenden Gesetze aus Geboten und Verboten der Scharia bestehen, d. h. aus dem Koran und anderen religiösen Bestimmungen. Nicht der Wille des Volkes (Demokratie), sondern der Wille Gottes gilt als Rechtfertigung für die Staatsmacht. Als Mittel zur Schaffung bzw. Erhaltung eines Gottesstaates haben die Verfechter dieser Richtung auffallend viel Gewalt eingesetzt. In Algerien haben sie Tausende umgebracht. In den islamischen Staaten werden Meinungs- und andere Freiheiten stark eingeschränkt, es gibt Folter und Hinrichtungen von Regimegegnern.

Lerch begnügt sich nicht mit der Darstellung dieser Erscheinungen; er fordert den Leser auf, sie in angemessenen Zusammenhängen zu sehen. Was die Gewalttätigkeit der Islamisten angeht, sei dies keine Eigenheit des Islam. Man denke an die Gewaltbereitschaft anderer Religionen, den westlichen Kolonialismus, den Gulag, die Konzentrationslager und die Schlachten in beiden Weltkriegen. Die von der Scharia geforderten Körperstrafen werden nur unter sehr strengen Voraussetzungen angewendet. So wird ein Dieb in Saudi-Arabien nicht verstümmelt, wenn er aus Not gestohlen hat. Dagegen müßte man sich vergegenwärtigen, daß es in den USA die Todesstrafe gibt. Wie andere Religionen auch, hat sich der Islam zuzeiten stark verinnerlicht, und zwar durch die Mystik (Liebe zu Gott und das Bemühen um Erkenntnis von Gott); der Islam ist also nicht nur eine Gesetzesreligion.

Die von Islamisten ausgeübte Gewalt führt Lerch zum Teil auf Armut und Unterdrückung zurück. Die weltlichen Regierungen in Ägypten und Algerien haben die Islamisten von einer Mitwirkung auf der politischen Bühne ausgeschlossen. Es kann wohl sein, daß die Islamisten in diesen Ländern sich an demokratische Verfahren gehalten hätten – wie die Wohlfahrtspartei in der Türkei –, wenn sie nicht ausgegrenzt worden wären. Hier hätte der Verfasser auch erwähnen können, daß die Gewalt, die von der Hamasbewegung ausgegangen ist, mit der Kolonisierung von Restpalästina zu tun hatte.

In einem Abschnitt befaßt sich Lerch ausschließlich mit der Lage in der Islamischen Republik Iran. Er vertritt die Auffassung, daß eine Überwindung des Gottesstaates "fürs erste undenkbar" sei, die Herrschaft der obersten Schriftgelehrten sei gesichert. Dennoch seien wichtige Verbesserungen einigermaßen wahrscheinlich; Präsident Chatami, der von 60 Prozent der Bevölkerung gewählt wurde, versucht mit einigem Erfolg, mehr Freiheit für die Bevölkerung zu erkämpfen. Seit dem Erscheinen dieses Buches sind vier Schriftsteller im Iran umgebracht worden, worauf das Innenministerium einige Mitarbeiter des Mordes beschuldigt und inhaftiert hat. Ein einmaliges Ereignis in einem Land, wo die Sicherheitskräfte kaum rechenschaftspflichtig sind!

Die feindliche Haltung in der islamischen Welt gegenüber dem Westen, insbesondere den USA, ist nach Lerch in wichtigen Teilen auf das Verhalten der USA zurückzuführen. Es gehe "vor allem, wenn nicht nur", um die Ungleichbehandlung der arabisch/islamischen Welt zugunsten Israels. "Nicht zuletzt diese Ungleichbehandlung hat auch die Heraufkunft all jener Ideen gefördert, die heute unter dem Stichwort des Islamismus für Unruhe sorgen". Israel dürfe Massenvernichtungsmittel besitzen und Menschenrechte grob verletzen, während arabische Staaten "für eine ähnliche Verhaltensweise mit Sanktionen überhäuft werden". Warum gibt es diese Ungleichbehandlung? Nach Lerch liegt es an der mangelnden Kenntnis arabischer Kultur seitens der politischen Führungskräfte im Westen. U.a. erwähnt er das ausgeprägte Ehrgefühl der Araber, das durch die Bevorzugung Israels verletzt werde. Leider übersieht der Verfasser hier die Bedeutung handfester Interessen: den Einfluß der Unterstützer Israels in den USA, vor allem jüdischer Verbände, auf die amerikanische Regierung und den Kongreß.

Gern sähe Lerch die Einführung von Demokratie und Freiheit und die Eindämmung der Gewalt in der islamischen Welt. Von dem übermächtigen Westen wünscht er mehr Achtung vor dem Islam.

 

Wolfgang Günter Lerch: Muhammads Erben, Patmos Verlag, Düsseldorf 1999, 200 Seiten, 39,80 Mark


 
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