© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    13/99 26. März 1999


Pankraz,
Peter Paul Rubens und die Leipziger Buchmesse

In zwei Bändchen aus den Neuangeboten der Leipziger Buchmesse hat sich Pankraz festgelesen: in einem französischen Kunstessay von Victor I. Stoichita mit dem Titel "Eine kurze Geschichte des Schattens" (Verlag Wilhelm Fink) und in einer Redensammlung von Botho Strauß, "Der Aufstand gegen die sekundäre Welt" (im Hanser-Verlag). Man kann Stoichitas Schatten und Straußens sekundäre Welten sich ineinander spiegeln lassen, und was man dann empfindet, drückt Strauß an einer Stelle folgendermaßen aus: "Wenn der Schein wild wird nach Gestalt, wird er den Spiegel zum Bersten bringen".

Die Darstellung der Schatten ist in der bildenden Kunst der letzten Jahrhunderte immer ausführlicher geworden, früh schon nahmen die Maler gar keine Rücksicht mehr darauf, ob diese Schatten denn auch "realistisch" waren, ob sie denn auch den Gesetzen der natürlichen Optik entsprachen. Bei Rubens gibt es Landschaften "mit zwei Sonnen", d. h. die Bäume und die Menschen werfen dort ihre Schatten in entgegengesetzte Richtungen, weil der Gesamteindruck dadurch effektvoller wird. "Dies", kommentiert Goethe im Gespräch mit Eckermann, "ist nicht gegen die Natur, sondern es ist höher als die Natur und damit vor Gott und den Menschen gerechtfertigt."

Für Botho Strauß ist die Invasion und Verselbständigung der Schatten eine horrible und desaströse Folge des "Informationszeitalters" und der "globalen Vernetzung". Was sich vernetzt, das sind eben "bloße Schatten", "sekundäre Welten", die die Herrschaft übernehmen. Es ist, als habe Peter Schlehmil nicht seinen Schatten verkauft, sondern als habe er sich selbst verkauft, um den Schatten an die Stelle seines Ichs rücken zu lassen.

Das Ich, so Strauß, wird zum Paranoiker. Die Vorstellungswelt des Paranoikers sei ja seit jeher beherrscht gewesen von universeller Vernetzung, jeder im Irrenhaus denkt, daß alles mit allem unmittelbar zusammenhängt, und jetzt verwandelt sich die Welt also tatsächlich in ein Irrenhaus. "Endlich sind alle Glühbirnen auf Erden miteinander verbunden." Wir treten ein ins Zeitalter kollektiver Trance.

Soll man, kann man überhaupt

noch dagegen aufstehen?

Strauß meldet, seinem eigenen Buchtitel zum Trotz, heftigste Zweifel an. "Auch in der größten Not des Überflusses wirft keine Savonarolagestalt mehr ihren Schatten voraus." Alles sei nur noch medialer Info-Reiz, und den Künstlern, die sich früher quergelegt oder Alternativwelten errichtet hätten, bliebe heute gar nichts anderes mehr übrig, als ihrerseits blindlings Info-Reize auszusenden. Das einzige Mittel, sich noch bemerkbar zu machen, sei, "die Beschußquote durch Reize zu erhöhen."

Straußens Hoffnung ist aber offenbar, daß eines Tages, wenn die Beschußquote allerseits bis ins Aberwitzige erhöht worden ist, der ganze Apparat schlichtweg durchknallt. "Unfähig, Schatten anders als Schatten zu erfahren, bewahren wir eine ursprüngliche Abwehr gegen ’unsinnliches‘ Erscheinen". Letztlich seien wir alle "Blumenexistenzen", mit einer einfachen Öffnung zum Licht. "Der Blume ist jedes Licht der Jüngste Tag."

Pankraz, die vielen schönen Schattenbilder bei Stoichita betrachtend, ist nicht von der durchgängigen Blumenexistenz des Menschen überzeugt. Schon die alten Neuplatoniker, begeisterte Lichtanbeter allesamt, wußten, daß der Mensch ausgespannt ist zwischen Licht und Schatten, mit einer Öffnung zum Licht und einer Öffnung zur Finsternis. Deshalb hat er auch eine kreatürliche Angst vor dem Jüngsten Tag und möchte ihn per Katechon möglichst weit hinausschieben. Deshalb malt er Schatten, à la Rubens oder à la Rembrandt. Das unterscheidet ihn von den Blumen.

Die Blumen saugen Chlorophyl aus dem Licht, die Menschen aber sehen das Licht, und sie sehen es nur, sofern es Schatten gibt, genau betrachtet sehen sie nur Schatten, vorzüglich ihren eigenen. Wenn sie den verkaufen, kommt es (siehe Peter Schlehmil) zur Katastrophe. Deshalb kann der Aufstand gegen die sekundäre Welt der Schatten vernünftigerweise nur darin bestehen, die Beschußquote durch Reize zu senken, statt sie zu erhöhen.

Die wahren Künstler dürfen

sich nicht hektisch in die

Vernetzung der durchknallgefährdeten Glühbirnen einklinken, sondern sie müssen sich rar machen in diesem Netz, sie müssen aus der Trance zum Ich zurückfinden. Und sie dürfen keine bloßen Reize ins Netz geben, sondern müssen echte Geheimnisse einspeisen, Rebusse, die der Entzifferung harren. Nur so kann das eintreten, was sich Strauß für das Lesen erhofft: "Die Neugier wird sich allmählich wieder aufs Entziffern umstellen."

Man sollte auf der Leipziger Buchmesse einen Anfang damit machen. Diese Messe ist bekanntlich, im Gegensatz zur Frankfurter, eine "echte Lesemesse", keine Rechte-Verscherbelungs-Messe. Darüber könnte man sich freuen, wenn nur die törichte Rekordsucht, die unerträgliche Quantitätshuberei, nicht wäre. Man will partout die "größte Lesemesse der Welt" sein. Sage und schreibe sechshundert (!) Autoren werden heuer dort etwas vorlesen. Wer kommt denn da noch zum Entziffern?

Auch das qualifizierteste Publikum wird bei solcher Beschußquote am Ende nur noch nach Außenreizen selektieren, und gewonnen haben wird wieder einmal derjenige, der die gröbsten Geschütze in Stellung bringt, der Irrenhaus- und Durchknallspezialist. Und es wird passieren, was der Komiker Heinz Erhardt einst so paraphrasierte: "Große Schatten werfen ihre Ereignisse hinter sich."

Bei Rubens und Rembrandt ist dergleichen nie passiert, wie der Band von Stoichita glanzvoll belegt. Bei denen gab es stets ein raffiniert ausgewogenes Verhältnis zwischen Licht und Schatten, nebst Blumenduft und reichlich Entzifferungsbedarf. Oh bitte, laßt uns auf dieses Niveau, wenigstens schattenhaft, wieder hinstreben!


 
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