© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    12/99 19. März 1999


Camilla Warnke / Gerhard Huber (Hrsg.): Die ökonomische Theorie von Karl Marx
Das eigene Fortleben in Fußnoten
Peter Boßdorf

Der Kalte Krieg war kein literarischer Wettstreit. Ebensowenig handelte es sich um eine wissenschaftliche Versuchsanordnung, etwa mit dem Ziel, unter Konkurrenzdruck politische und wirtschaftliche Spitzenleistungen heraufzubeschwören. Das Ende dieses Ost-West-Gegensatzes durch das Ende des Ostens hat daher für die Sozialwissenschaften einen nur geringen Informationswert. Es war allerdings als Anhäufung spannender und bewegender Moment, zu erlebnisintensiv, um nicht als Anlaß für feuilletonistische Bestandsaufnahmen auf Verständnis stoßen zu können.

Was bleibt von der ökonomischen Theorie von Marx nach dem Ende des europäischen Kommunismus? Diese Frage ist also nachvollziehbar, aber keineswegs zwingend. Gestellt hat sich ihr dennoch eine "Gruppe von Wirtschaftswissenschaftlern und Philosophen aus Ost- und Westdeutschland", die seit 1994, "der Förderung durch die Werner-Reimers-Stiftung" sei Dank, in der glücklichen Lage sind, alljährlich in Bad Homburg eine Tagung durchzuführen. Auf das entsprechende Ereignis des Jahres1995 geht nun diese Publikation zurück.

Welche Relevanz Marx für die akademische Nationalökonomie hat, kann kurz und bündig gesagt werden: eine geringe. Sofern das auf Optimierung des Lebenseinkommens zielende wissenschaftliche Arbeiten überhaupt den Blick auf die Dogmengeschichte gestattet, erscheint Marx als der letzte Klassiker, als Abschluß einer Theoriebildung, die von der subjektiven Wertlehre noch nichts wußte und daher bloß Bildungsgut darstellt. Man mag aus solcherlei Literatur zwar Sinnsprüche und Bonmots abzweigen können, doch verliert sich nie die schmunzelnde Gewißheit, es hier mit antiquarischem Zierat zu tun zu haben. So teilt Marx das Schicksal von Ricardo, den beiden Mills und natürlich auch Smith, und zu dieser hochachtungsvollen Geringschätzung hat es nicht eigens eines Schwellenjahres 1989 bedurft. Im übrigen vermögen selbst die Makroökonomen des nachfragetheorethischen Roll back, denen ein Keynesianismus nachgesagt wird, als seien sie Marxisten, keinen anderen Zugang zum vermeintlichen Monolithen der Zunft zu finden.

Die Erwartungen an die "Aktualität" des Ökonomen Marx können somit gar nicht so hoch gesteckt werden, daß sie nicht zu erfüllen wären. Die meisten Autoren des Bandes nutzen diese Gelegenheit, um ohne weiteren Schaden für das Ansehen des geschätzten Klassikers kokett die eigenen Lesebewegungen und Grillen vorzuführen. Das Gefühl, sich an den Titanen nicht abarbeiten zu müssen, sondern sie nach Gusto verwursteln zu dürfen, ohne auf eine spätere Selbstkritik gefaßt zu sein, berauscht. Was das eigene Fortleben in den Fußnoten des akademischen Betriebes gefährden könnte, wird über Bord geworfen. Das Diktum von Engels, daß die Nationalökonomie das Unglück der Gesellschaft und die Bereicherung der Privatiers zum Zwecke habe, soll nun nicht mehr gelten, mehr noch, es sei widerlegt. Sogar "die Vorstellung vom Privateigentum als der Wurzel aller sozialen Übel ist falsch", behauptet Peter Ruben unaufgefordert – bloß, um dann zu dem traurigen Ergebnis zu gelangen, daß Marx einer Wissenschaft, mit der man sich nun gemein machen darf, weil von ihr der Ideologieverdacht genommen wurde, eigentlich recht wenig zu bieten hat. Da nützt dann auch keine Formalisierung auf dem Niveau der Sekundarstufe I mehr, um wenigstens dem flüchtig durchblätternden Zeitgenossen den Eindruck zu vermitteln, es handele sich hier um die vertraute Sprache der Ökonomie. Die Suche nach dem Bleibenden bei Marx verliert sich in der Anwendung der Grundrechenarten und einer Auflistung all der Koryphäen, die ihm die Referenz erwiesen haben: Schumpeter natürlich, aber auch North und Coase.

Jene deutsch-deutsche Hilflosigkeit von Menschen, die irgendwo ankommen wollen, wo sie niemand erwartet, ist das uneingestandene Paradigma dieses Buches. Einen grotesken Höhepunkt markiert eine "Kritik der Marxschen Klassentheorie". Hier hält der Autor, Gerhard Huber, es zunächst für bemerkenswert, daß Karl Marx den Klassenbegriff in "13 verschiedenen Verwendungen gebrauchte", dann enthüllt er onkelhaft, daß die Verhältnisse ganz furchtbar komplex werden, wenn wir es nicht mit einem klaren Hauptwiderspruch zu tun haben, sondern mit vielen voneinander unabhängigen und gleichrangigen Interessengegensätzen: Dies war seit Ralf Dahrendorf nicht mehr so holzschnittartig zu lesen.

Die Kunst des unerwarteten Querverweises auf putzige Beispiele, zu kurz gekommene Literatur oder einfach nur prägende Alltagserfahrungen beherrscht man, einzig Grüße an Freunde und Verwandten gelten weiterhin als unstatthaft. Allerdings ist diese Sprunghaftigkeit nicht notwendigerweise ein Ausweis von assoziativer Begabung, selbst wenn – lange hat man nichts mehr von ihm gehört – Walter Benjamin zitiert wird. Dahinter könnte eine Strategie der Einkommenssicherung geargwöhnt werden: "Die Liberalität der bürgerlichen Gesellschaft (…) wird sich nicht zuletzt daran zu bewähren haben, ob sie einer derartig marxistisch inspirierten Sozialwissenschaft der Zukunft faire Forschungsbedingungen gibt", behauptet Hans G. Nutzinger am Verhandlungstisch, bereit die Bewilligung von Stellen gegen Streichungen bei Marx einzutauschen.

Gerechtfertigt wird das Buch einzig durch seine Fehlfarbe: einen Beitrag von Manfred Lauermann, der Marx tatsächlich ernst nimmt und ihn in lexikographischer Kürze als Wirtschaftssoziologen präsentiert, der mit zentralen modernen Fragestellungen verknüpft ist. Der Verlust an Autopoiesis, die "immanente Dekonstruktionslogik" des Teilsystems Wirtschaft ist "von Marx bereits vorgedacht worden. Die Modernität des Wirtschaftssoziologen Marx besteht demnach in seiner Distanz zum allgemein gewordenen Kapitalismus, in seiner frühen Skepsis in bezug auf einen Lösungspfad wie den des Sozialstaates, dessen Implosion dialektisch antizipiert werden könnte". Das klingt schon weniger versöhnlich.

Camilla Warnke / Gerhard Huber (Hrsg.): Die ökonomische Theorie von Marx – was bleibt? Reflexionen nach dem Ende des europäischen Kommunismus, Metropolis Verlag, Marburg 1998, 240 S., 44 Mark


 
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