© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    12/99 19. März 1999


Pankraz,
Georges Clemenceau und der Mensch ohne Groll

Hört man einer gewissen Form von anklagendem Gegreine in französischen, aber auch in italienischen und polnischen Zeitschriften zu, so vernimmt man immer wieder dies: "Ihr Deutschen kümmert euch zuwenig um uns, ihr seid zu sehr mit euch selbst und eurer Vergangenheit beschäftigt, redet höchstens noch über Juden oder Amerikaner, doch wo bleiben wir, eure unmittelbaren Nachbarn und kontinentalen Schicksalsgenossen? Wir sind für euch offenbar nur noch Warenabnehmer und Touristenbetten-Anbieter!"

Fast möchte man lachen. Gibt es denn überhaupt ein anderes Volk, das sich mehr um auswärtige Verhältnisse "kümmert" als das deutsche? Haben wir nicht die meisten Auslandskorrespondenten, die teuersten Auslandsstudios? Mißachten wir nicht im Gegenzug die eigene Tradition und die eigenen Bräuche bis zum Exzeß, verspotten sie, verleugnen sie? Wie kann man uns so mißverstehen?

Aber die klugen Mandarine in Paris, Rom oder Warschau mißverstehen uns keineswegs. Sie durchschauen, daß die Negativ-Beschäftigung mit der eigenen Befindlichkeit letztlich eben auch nichts anderes ist als Selbstbeschäftigung, Nabelschau, unablässiges Wühlen in den Tiefen der eigenen, empfindlichen, durch "Schuld" so sehr beschädigten Seele. Und sie ärgern sich darüber, fühlen sich ausgeschlossen, wittern gar hegemoniale Ambitionen.

Anspruchsvolle französische Feuilletons und Reiseberichte aus Deutschland zeigen sich in der Regel eigentümlich fasziniert von den hiesigen Geistes-Exerzitien, die uns selbst längst kolossal langweilig und geradezu banal vorkommen. Hinter jedem Wort, das hierzulande fällt, vermuten sie irgendwelche Hintergedanken, erschreckende Potentialitäten, schlüpfrige Eventualitäten. "Was ist damit gemeint", wird unentwegt gefragt, "was meinen die wirklich?"

Entsprechende deutsche Berichte aus Frankreich oder Italien (so es sie überhaupt noch gibt) pflegen da einen ganz anderen Ton. Da wird nicht gedeutet und gerätselt, sondern einfach ("mundfrisch") heruntergerattert, wie über x-beliebige Kuriositäten aus dem Mittagsmagazin oder aus der Reisebeilage.

Jeder Zuhörer spürt sofort, daß die Seelenzustände sensibler französischer oder italienischer Intellektueller den deutschen Berichterstatter nicht die Bohne interessieren, daß sie ihm völlig gleichgültig sind und er damit nur seine Sendezeit füllen will. Es dominiert wirklich eine Konsumenten- und Touristenperspektive, die für Auswärtige um so verletzender ist, als sie von den Einheimischen, auch wenn sie noch so intellektuell daherkommen, gar nicht mehr als solche wahrgenommen wird. "Französischer Käse halt, wohlschmeckend, aber nicht existenzberührend."

Nun könnte man in die Archive der Völkerpsychologie hineinlangen und darauf hinweisen, daß das früher auch nicht viel anders gewesen ist. Französischen Beobachtern galten die Deutschen schon im achtzehnten, ja, schon im sechzehnten Jahrhundert als "Volk der Möglichkeit" (Malebranche), als "Bergwerk" (Madame de Stael), als haltloser, sich ständig wandelnder Proteus, voller Prophetengabe zwar, aber ohne feste Kontur. Die Franzosen ihrerseits erschienen den Deutschen stets ganz überwiegend als offenes Buch, das man auslesen mußte, an dessen Esprit man sich erfreuen konnte, das man nach Lektüre aber auch ruhig beiseite legen durfte.

Was allerdings neuerdings hinzugekommen zu sein scheint, ist jene Sorge der Franzosen, Italiener, Polen, Kroaten usw., daß die Deutschen ihr Bergwerk mit aller Macht verlassen wollen, daß mithin nichts mehr von ihnen zu erwarten sei, was man sich nicht auch, und besser noch, in den USA abholen könne: instrumentalisierende Rationalisierung, Ertragsoptimierung, routinierte Spaßbereitung. Die Verwandlung also von Nibelheim in Disneyland.

Nächst dem Übermaß an nicht endenwollender, immer wüster sich überschlagender "Vergangenheitsbewältigung" beunruhigt europäische Beobachter genau diese hemdsärmelige Optimierung und Spaßbereitung. Und am meisten beunruhigt die ungenierte, nachgerade obszöne Mischung aus Vergangenheitsbewältigung und Spaßbereitung, dieses koordinierte Einherschreiten in Büßergewand und Narrenkappe, mit altem Schuldschlamm an der Mönchssandale und neuesten Börsenkursen unter der Tonsurglatze.

Diese (Miß-)Gestalt, so realisiert man jetzt in den Nachbarländern, entwickelt sich zu einer handfesten Gefahr für Europa. Man kann sie zwar finanziell noch, für eine Weile wenigstens, kräftig anzapfen, kann sie erpressen und als Melkkuh verwenden. Doch im selben Maße, wie sie auslaugt, füllt sie sich mit Fremdheit auf, wird zum Hohn auf jeden Gedanken an eine mögliche "europäische Identität", zum Risikofaktor im Zentrum des Taifuns.

Nicht zuletzt deshalb der anschwellende Ruf von außerhalb, wir sollten nicht nur zahlen, sondern uns auch "kümmern". Dieser Ruf ist gar nicht so egoistisch gemeint, wie er im ersten Moment klingen mag, er besagt: "Kümmert euch ruhig weiter um die eigene Seele, aber ihr müßt es endlich wieder ehrlich und unverstellt tun! Dann wird euch ganz von allein aufgehen, daß ihr euch auch um die Seelen eurer Nachbarn kümmern müßt, mit denen ihr so viel gemeinsam habt und bei denen sich so viel von eurem Eigenen abspiegelt (wie auch vice versa)."

Grollend notierte einst, im Jahre 1928, der große Deutschenfeind Clemenceau: "Der Deutsche ist einfach ein Mensch ohne Groll. Daher kommt seine große Überlegenheit. Er verliert die Nerven nicht. Er wird über uns herfallen, wenn der richtige Augenblick gekommen ist." Diese Reflexion läßt sich zeitgemäß abwandeln. Wer ohne Groll gegen andere ist, so ließe sich sagen, der kann sich gegen sie öffnen und mit ihnen wahrhaft gediegene Verhältnisse herstellen. Er muß aber auch den Groll gegen sich selbst überwinden.


 
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