© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    12/99 19. März 1999


Deutsche und Türken
von Herbert Bath

Die Türken sind in der europäischen Geschichte erst spät aufgetaucht. Zur asiatischen Familie der Turkvölker gehörend, bildete dieser turkmenische Stamm im 13. und 14. Jahrhundert ein Reich in Kleinasien, das sich nach seinem Gründer Osmanisches Reich nannte. Es bedrohte die Reste des byzantinischen Reiches und griff auf den Balkan über. 1389 wurden die Serben auf dem Amselfeld (Kosovo) besiegt, 1448 die Ungarn an gleicher Stelle. 1453 eroberten die Türken Konstantinopel und beherrschten bald ganz Südosteuropa; die Türkengefahr trat in das europäische Bewußtsein. Es handelte sich um das Eindringen "eines völlig fremden und sich als unfähig zur Assimilation erweisenden Elements in die abendländische Staatenwelt", wie es bei dem Historiker York von Wartenburg in seinem Buch "Weltgeschichte in Umrissen" heißt.

Zweimal standen die Türken vor Wien. 1529 mußten sie ohne Erfolg abziehen, 1683 wurden sie geschlagen. Erst danach ging es mit der Türkenherrschaft auf dem Balkan abwärts, obwohl noch schwere Kämpfe bevorstanden. Prinz Eugen eroberte als Feldherr des Kaisers mit der Reichsarmee – Truppen aus allen Teilen des deutschen Reiches – Budapest und schlug ein Jahr später 1697 die Türken in Zenta entscheidend. Der geschichtliche Rest war langwierig und reicht bis in die Gegenwart. Das moslemisch geprägte Bosnien-Herzegowina mit seinen ungelösten Konflikten und über neun Millionen Moslems auf dem Balkan erinnern an die Türkenherrschaft, die schließlich auf den ostthrakischen Brückenkopf vor Istanbul zurückgedrängt wurde.

Im Ersten Weltkrieg waren Deutsche und Türken Verbündete. Sie verteidigten siegreich die Dardanellen und fochten gemeinsam in Mesopotamien und Palästina. In diese Zeit fällt auch der türkische Völkermord an den christlichen Armeniern. Deutsche Vorhaltungen fruchteten nichts, weil die Bundesgenossen ihre grauenhaften Maßnahmen als innere Angelegenheit bezeichneten. Überhaupt kam es bei Kriegsschluß zu Mißhelligkeiten, weil die Türken die transkaukasischen Länder Armenien, Georgien und Aserbeidschan annektieren wollte und Deutschland den jungen Staaten militärisch beisprang.

Heute leben allein in Deutschland über zwei Millionen Türken. Es ist wie eine Ironie der Geschichte: die Türken stehen nicht mehr vor Wien, sondern in Wien, und sie stehen in Berlin dazu. Sie wollen nicht mehr den Balkan erobern, sondern sich in Mitteleuropa festsetzen. Die Türken sind auch heute nicht irgendwelche Ausländer, sondern kommen aus einem Land mit 65 Millionen Einwohnern, die wegen des enormen Geburtenüberschusses jährlich um über eine Million zunehmen. Die Türkei ist ein Bevölkerungskessel unter Überdruck.

Dieser Zustand wird begleitet durch schlechte wirtschaftliche und soziale Verhältnisse. Der Export ist nur halb so groß wie der Import. Die Lücke muß vom Tourismus geschlossen werden. Die Inflation beträgt jährlich etwa 70 Prozent. Armut herrscht vor. Der Anteil pro Einwohner am Bruttosozialprodukt bleibt weit hinter allen Ländern der EU zurück. Selbst Intimfeind Griechenland bringt viermal mehr Einkommen pro Kopf auf die Waage. Auch die ehemaligen Ostländer und Teilstaaten Jugoslawiens Slowenien, Tschechei, Ungarn, Kroatien, Slowakei, Polen und Estland stehen besser da als die Türkei.

Die Arbeitslosigkeit in der Türkei beträgt nach offiziellen Angaben sechs Prozent. Von den in Deutschland arbeitenden Türken sind nach türkischen Angaben etwa 70 Prozent als nicht-qualifizierte Arbeitskräfte auf niedrigem Lohnniveau beschäftigt. Freilich gibt es auch unter Türken in Deutschland eine hohe Arbeitslosigkeit von mehr als 30 Prozent. Es werden also erhebliche Sozialkosten auf Deutschland übergewälzt. Gleichwohl muß die Türkei auf den Devisenrückfluß ihrer im Ausland lebenden Bürger Wert legen. Wer als Türke in Deutschland arbeitslos ist, steht häufig sozial besser da, als wer zu Hause einen Arbeitsplatz hat. Helmut Kohl mochte sich jedenfalls nicht vorstellen, was der Zutritt der Türken zum europäischen Arbeitsmarkt bedeuten würde.

Politisch ist die heutige, nach dem Politiker und General Kemal Pascha kemalistisch genannte Demokratie von westlichem Verfassungszuschnitt. Allerdings gibt es wesentliche Einschränkungen. Die westlich gebildete Führungsschicht hat die Trennung des Staates von der muslimischen Religion durchgesetzt und eine beachtliche Modernisierung damit verbunden. Doch sind die Bürger dieses Staates Muslime geblieben und haben bei den Wahlen wiederholt für eine Politik gestimmt, die eher islamisch als westlich-laizistisch orientiert war. Alle großen türkischen Parteien müssen daher auf muslimische Grundvorstellungen Rücksicht nehmen, so daß politische Unterschiede zusammenschmelzen.

Zweitens hat die Armee als Hüter des laizistischen Staates ungefähr in jedem Jahrzent einmal korrigierend eingegriffen und die Macht selbst übernommen. Zuletzt wurde Anfang dieses Jahres die Regierung verwarnt. Die türkische Demokratie ist letztlich eine Militärdemokratie. In der türkischen Politik gegenüber Europa und besonders gegenüber Deutschland sind zwischen den politischen Strömungen Unterschiede kaum auszumachen. Nationale Positionen werden nach außen in großer Einmütigkeit vertreten.

Ungelöst ist das Kurdenproblem. Der Anteil der Kurden an der Bevölkerung der Türkei beträgt etwa 20 Prozent oder über zwölf Millionen. Sie haben ihr Wohngebiet in Südost-Anatolien und sprechen überwiegend nur Kurdisch. Von den Türken werden sie gerne als "Bergtürken" negiert, aber aggressiv verfolgt, wenn sie für eigene nationale Positionen eintreten. Was dabei Ursache und Wirkung ist, läßt sich von außen schwer beurteilen. Die Forderung der Kurden nach kultureller Autonomie wird von der Türkei kategorisch abgelehnt, zuletzt durch Ministerpräsident Ecevit: "Mit Minderheiten, die die Türkei spalten wollen, verhandeln wir nicht." In Deutschland stellen die Kurden als Asylbewerber, die auch bei Ablehnung hier geduldet werden, einen großen Anteil des Zuzugs von türkischen Staatsangehörigen – ein absurder Zustand, weil die Türkei als Nato-Mitglied zu unseren Bündnispartnern gehört, wir aber ihre Staatsbürger vor den eigenen Behörden schützen.

Im Verhalten von Türken und Kurden in Deutschland sind kaum Unterschiede feststellbar, zumal beide Nationalitäten mit dem gleichen Paß kommen. Zwar sind kurdische Gewalttaten jedermann in Erinnerung, doch wäre es falsch, die Türken für politisch abstinent und gesetzestreu zu halten. So wurde am 28. November 1998 die Berliner Innenstadt am Kurfürstendamm durch 7.000 Türken mit einer Protestkundgebung gegen die Weigerung Italiens blockiert, Öcalan an die Türkei auszuliefern. Italienische Geschäfte wurden demoliert. Politische Auseinandersetzungen in der Türkei werden mit großer Selbstverständlichkeit auch in Deutschland ausgetragen. Die meisten politischen Demonstranten, ob Türken oder Kurden, verstoßen nicht gegen das Grundgesetz und sollen nach Vorstellung der rot-grünen Bundesregierung grundsätzlich Anspruch auf die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten; sie können dann endgültig nicht mehr abgeschoben werden, auch wenn sie sich als Extremisten entpuppen.

Wie alle im Ausland lebenden Türken werden auch die Türken in Deutschland von staatlichen türkischen Stellen unterstützt, besonders von dem im Außenministerium bestehenden "Generaldirektorat für Auslandstürken". Von diesem Amt war unlängst zu hören, daß Türkisch die meistgesprochene Fremdsprache in Deutschland ist, was sicher zutrifft. Die staatlichen Stellen sind auf keiner Ebene zimperlich, wenn es um die Türken in Deutschland geht.

Bereits im November 1995 rief Staatspräsident Süleyman Demirel die Türken in Deutschland auf, sich einbürgern zu lassen. Die deutsche Staatsangehörigkeit bedeute nicht den Verlust der türkischen Identität. Demirel bezeichnete in diesem Zusammenhang die Türken in Deutschland als "türkische Kolonie". Von "Integration" seiner Landsleute in die deutschen Verhältnisse durch die Annahme der deutschen Staatsangehörigkeit wollte der türkische Staatspräsident nichts wissen.

Schon 1994 hatte sich der damalige türkische Botschafter entgegen der Rechtslage in Deutschland für die doppelte Staatsangehörigkeit ausgesprochen – eine eklatante Überschreitung der Grenze diplomatischer Gepflogenheiten. Der neue Botschafter bezeichnete die Anwesenheit von 2,5 Millionen Türken in Deutschland als "Bestandteil der historischen türkisch-deutschen Freundschaft".

Diese Freundschaft wird allerdings im Bedarfsfall durch die türkische Politik sehr rabiat gehandhabt. Als im März 1997 während einer Veranstaltung die christlichen Parteien eine Mitgliedschaft der Türkei in der EU ablehnten und auch Bundeskanzler Kohl diesen Standpunkt vertrat, kam es zu einer hemmungslosen deutschfeindlichen Kampagne. Außenministerin Tansu Ciller drohte sogar mit einem Veto gegen die Osterweiterung der Nato. Der türkische Vorwurf lautete damals, die EU sei ein "Christenclub".

Vollends schäumte die antideutsche Stimmung über, als Ostern 1997 bei einem Brandanschlag in Krefeld eine türkische Frau mit zwei Kindern ums Leben kam. Fast die gesamte türkische Presse stimmte in einen antideutschen Rassismusverdacht ein. Innenministerin Meral Aksener, wie Ciller keine Fundamentalistin, sondern damals in Koalition mit Erbakan, geiferte: "Wohin wir auch gehen, wir krallen uns fest. Deshalb können sie uns nicht rausschmeißen, aber jetzt verbrennen sie uns." Kurz danach wurde in Krefeld der Türke Aziz Demir wegen Mordes an seiner Familie verhaftet.

Im Frühjar 1998 machte der neue Regierungschef und Vorsitzende der Mutterlandespartei, Mesut Yilmaz, der wie viele Türken der Oberschicht in Deutschland studiert hat und gut Deutsch spricht, Deutschland für die Diskriminierung seines Landes durch die EU verantwortlich. In einem Interview mit der britischen Financial Times warf er Bonn vor, die NS-Politik fortzusetzen. Die deutsche Ablehnung der EU-Mitgliedschaft der Türkei sei mit Hitlers Ideologie vom Lebensraum in Osteuropa vergleichbar.

Ohne den (sehr moderaten) deutschen Protest zu beachten, meinte Yilmaz kurz danach, die Türkei sei auf deutsche Touristen nicht angewiesen. Schließlich griff er den Bundeskanzler persönlich an: Die Aufnahme der Türkei dürfe nicht "von den Vorurteilen des Herrn Kohl" abhängen.

Vor der Bundestagswahl forderte Yilmaz die türkischstämmigen Wähler indirekt, aber deutlich genug auf, gegen Kohl zu stimmen. Der ehemalige Außenminister Denis Baykal, Vorsitzender einer sozialdemokratischen Partei, hatte schon vorher in einem Brief die 200.000 türkischstämmigen Wähler aufgerufen, für die SPD und damit für die doppelte Staatsangehörigkeit zu stimmen. Der Türkische Bund in Berlin frohlockte, daß im Wahlkreis Schöneberg-Kreuzberg die 4.000 türkischen Wahlstimmen entscheiden würden. Gewählt wurde der Bewerber der SPD. Die Türkei will nicht, daß sich die Türken in Deutschland integrieren – die Türkei will die Türken in Deutschland dirigieren.

Die Zugehörigkeit der Türken zum Islam ist ein wesentliches Bindeglied der Türken in Deutschland zu ihrem Vaterland und ein wesentlicher Hinderungsgrund für ihre Einfügung in deutsche Lebensverhältnisse. Das gilt keineswegs nur für religiöse Fundamentalisten, sondern auch für religiös weniger engagierte Türken. Man kann aus dem Islam nicht austreten, indem man einen Brief an das zuständige Amtsgericht schreibt, wie das bei uns ist. Der Islam ist nicht eine Religion wie das Christentum, sondern eine militante Einheit von diesseitigen Lebensformen und jenseitigen Glaubensvorstellungen.

Dieser islamische Zusammenhang kann bei unterschiedlichsten Gelegenheiten aktualisiert werden. Es gibt den Vorwurf der (laizistischen) Regierung, die EU sei ein "Christenclub", es gibt die Forderung nach islamischem Religionsunterricht in den deutschen Schulen, auch wenn unklar ist, wie dieser Unterricht beschaffen sein und wer ihn erteilen soll. Es gibt die Ablehnung westlicher Kultur als Ausdruck von Dekadenz und Unmoral. Das überlegene Wertgefühl wird von dem "überzogenen Selbstbild" gespeist, die Türken seien das "Zentrum der Welt", das in der Türkei offen propagiert wird (Bassam Tibi). In diesem Punkt besteht eine Einheit von Islamismus und Laizismus.

Das übersteigerte Selbstgefühl der Türken zeigt sich auch in der Meinung, ohne die Arbeit der Türken hätte es in Deutschland keinen Wiederaufbau und kein Wirtschaftswunder gegeben. In einem Flugblatt des Koordinierungsrates der türkischen Vereine in Nordrhein-Westfalen heißt es: "Ohne die Ausländer ständen die Deutschen heute noch auf ihren Trümmern … Wer das Land aufgebaut hat, dem gehört es auch. Darum: Der nächste Bundeskanzler muß ein Türke sein. Die Kreuze müssen verschwinden! Der Islam ist die stärkste Kraft. Der Islam wird siegen." Natürlich sind solche Äußerungen nicht repräsentativ. Aber dürfen wir sie deshalb ignorieren?

 

Herbert Bath, Jahrgang 1926, war Schulleiter und Referent für Bildungsfragen in der Berliner Schulverwaltung. Von 1966 bis zu seinem Ausscheiden 1991 war er Landesschulrat von Berlin.


 
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