© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    12/99 19. März 1999


EU-Kommission: Hinter den Kulissen wird über den Nachfolger von Santer verhandelt
Das Stühlerücken hat begonnen
Johanna Christina Grund

In Berlin treffen am 24. und 25. März die 15 Regierungschefs der EU-Mitgliedsländer zusammen, um sich gegenseitig Finanzmittel zu entlocken. Am vergangenen Montag tanzten in Brüssel das Europaparlament und die EU-Kommission ein weiteres und vorerst letztes Mal miteinander den "Tango korruptus": Der "Rat der fünf Weisen", ernannt nach dem Zerrtanz des im Januar in Straßburg gescheiterten Mißtrauensantrags des Parlaments, legte seinen 140seitigen Bericht über die Günstlings- und Vetternwirtschaft, die Selbstbereicherung und Geldverschwendung in der EU-Kommission den Abgeordneten vor. Der Expertenausschuß hat darin der EU-Kommission unisono Mißmanagement und insbesondere der französischen Kommissarin Edith Cresson Vetternwirtschaft vorgeworfen. Die Kommission habe die Kontrolle über ihre Verwaltung verloren, so die Prüfer. Aber auch die deutsche EU-Kommissarin Monika Wulf-Mathies wurde wegen einer Einstellung, die die Prüfer als "unangemessenes Verfahren" bewerteten, kritisiert. Die Reaktion des Parlaments fiel dementsprechend heftig aus. "Wenn die Kommission jetzt nichts unternimmt, dann gibt es ein Mißtrauensvotum", kündigte der CDU-Abgeordnete Elmar Brok auf der Sondersitzung des Europaparlaments an. Noch klarer drückte es die Fraktionschefin der Sozialdemokraten, Pauline Green, aus: "Wir haben bisher geduldig auf Beweise der Experten über mögliche Fehlverhalten gewartet." Jetzt aber sei ihre Geduld erschöpft. Sollte EU-Kommissionspräsident Jacques Santer weiterhin zögern, "dann wird sein Kopf rollen", drohte die Abgeordnete. Mit den erfolgten Rücktritten kam die Kommission ihrer Enthauptung zuvor.

Der früher so sanguinische Kommissionspräsident war bereits verunsichert. Er wußte, daß seine Tage so oder so gezählt waren. Nur ob er 1999 politisch überleben würde, war ihm selbst unklar, denn die Demontage des mächtigen Zentralkomitees hatte längst begonnen. Santer hatte am 3. März erstmals angedeutet, daß sich einzelne der 20 EU-Kommissare der politischen Verantwortung stellen und zurücktreten sollten, falls ihnen Fehlverhalten nachgewiesen werden könnten. Er machte damit klar, daß Edith Cresson, die von Anfang an im Zentrum der Vorwürfe wegen Miß- und Vetternwirtschaft stand, nicht mehr auf seine Rückendeckung zählen konnte. Selbst auf einer Falltür stehend, gab Santer seine französische Kollegin indirekt zum "Abschuß" frei. Ernsthafte Arbeit hat die für Wissenschaft und Forschung zuständige Kommissarin ohnehin lange nicht mehr geleistet. Er wollte mit diesem Schritt das restliche Gremium vor dem Hinauswurf bewahren und über die Amtszeit retten.

Zwar hat das Parlament nur die Möglichkeit des Mißtrauens gegen die gesamte Kommission. Artikel 160 des EU-Vertrages sieht jedoch die Amtsenthebung einzelner Kommissare durch den Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg für den Fall vor, daß sie schwere Verfehlungen begangen haben. Es sah lange so aus, als ob Santer eher ein Kommissionsmitglied als die ganze Truppe opfern wolle. Die Implosion seines Hauses scheint ihn aber zermürbt zu haben. Freiwillig zurücktreten wollte Cresson auf keinen Fall, wie sie Mitte letzter Woche französischen Journalisten erklärte. Sie zieht lieber die ganze, mehr oder weniger genauso korrupte Kommission mit in den Abgrund. Daran ändert auch der neue Verhaltenskodex nichts, den Santer sich und seiner Kommission erst kürzlich noch verordnet hat: Kein Kommissar darf künftig Geschenke im Wert von über 300 Mark annehmen oder einen Nebenerwerb ausüben. In der Realität heißt dies, daß an die Stelle der Rolex eine Swatch treten muß und daß sich die Götter von Brüssel auch nicht mehr mit den beliebten, weil bezahlten Lehrstühlen an Universitäten verwöhnen lassen dürfen. Weiters sollen sie ihre Einkünfte offenlegen und nicht mehr ihre Familienmitglieder im Kommissionsapparat beschäftigen, um das Geldmachen zu vervielfältigen. Alle diese Maßnahmen hatten nur Alibifunktion, um ein Überleben der Kommission sicherzustellen. Tiefgründig offenbarte sich in dem ganzen unappetitlichen Schauspiel die Dekadenz einer Gesellschaft, die im Wissen um ihren Untergang noch unermeßliche Macht mit unermeßlichem Genuß auf Kosten anderer verbinden wollte. Es gab bis zuletzt keinerlei Unrechtsbewußtsein für diese Einstellung. Alles handelt nach dem Gebot: Du sollst dich nicht erwischen lassen.

Nach dem Scherbengericht des 14. Januar im Straßburger Hemicycle sind bereits wieder neue Fälle der Korruption bekannt geworden. Der portugiesische Kommissar Joao de Pinheiro hat seine Ehefrau und seinen Schwager mit guten Posten im EU-Kabinett versorgt. Er kassiert also dreimal. Der irische Kommissar Padraig Flynn ist im eigenen Lande politisch und moralisch unhaltbar geworden, seitdem herausgekommen ist, daß der Bauunternehmer und Liegenschaftshändler Thomas Gilmartin 1989 dem damaligen irischen Innenminister Flynn einen Scheck über 50.000 Pfund (nach heutigem Kurs 124.400 Mark) gegeben und auf Wunsch von Flynn die für den Empfängernamen vorgesehene Zeile freigelassen habe. Gilmartin hatte bestimmt, daß das Geld der damals wie heute regierenden Fianna-Fail-Partei zugute komme. Aber das Geld gelangte nie in die Parteikasse. Flynn indessen zeigte keinerlei Reue und wollte auch den Verbleib des Geldes nicht klären. Im irischen Fernsehen brüstete er sich mit seinen guten Taten in Brüssel, mit seinem Reichtum und Einfluß.

Ehe noch der Bericht der "fünf Weisen" vorlag, gerieten selbst diese in einen Skandal. Die angeblichen Anti-Korruptionsexperten kassieren für ihre Untersuchungen horrende Honorare, die größtenteils das Europaparlament bezahlt. Jeder "Weise" erhält jeden Monat umgerechnet 19.000 Mark und eine Pauschale für "allgemeine Kosten" von 7.800 Mark, und jeden Tag ein Sitzungsgeld von 585 Mark.

Eigentlich sollte erst zum Kölner Gipfel im Juni Klarheit über die Zusammensetzung der künftigen Kommission ab Januar 2000 geschaffen sein. Nach dem Rücktritt der gesamten Kommission in der Nacht vom Montag auf Dienstag wird nun auch der EU-Gipfel Ende März in Berlin von dieser Frage überschattet werden. Von den bisherigen Kommissaren hätten maximal sechs bleiben sollen. Da nach Aufteilung der Macht im Syndikat als Präsident einem Schwarzen immer ein Roter folgt und umgekehrt, wäre nach dem Christdemokraten Jacques Santer (Luxemburg) ein Sozialdemokrat an der Reihe. Außerdem folgt ein Repräsentant eines großen EU-Landes immer dem eines kleinen. Zunächst hatte der spanische Ex-Premierminister Felipe Gonzales die besten Chancen im Kandidatenkarussell. Doch die Verstrickung ehemaliger Minister seiner Regierung in Mordanschläge auf Basken ließen seinen Stern schnell wieder sinken. Am wahrscheinlichsten ist derzeit die Wahl des ebenfalls aus Spanien stammenden bisherigen NATO-Generalsekretärs Javier Solana, dessen Amtszeit Ende 1999 ausläuft, oder des früheren italienischen Premierministers Romano Prodi vom linken Bündnis "Olivenbaum" zum künftigen Kommissionspräsidenten, der gerissen genug war, sein Land trotz 121 Prozent Staatsverschuldung gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) in die "Euro"-Währungsunion zu bringen, dann aber am Budget 1999 im Parlament scheiterte. Antonio Guterres (Portugal) und Franz Vranitzky (Österreich) spielen eher eine Nebenrolle. Und auch Oskar Lafontaine scheint nach seinem Rücktritt als Finanzminister aus dem Rennen zu sein. Den "Euroturbo" Helmut Kohl wollen zwar einige ausländische Christdemokraten, nicht aber die Parteien, die die deutsche Bundesregierung tragen. Für sie ist der abgewählte deutsche Kanzler ein europapolitischer Dinosaurier, den man nicht durch die Hintertür Brüssel wieder im Genick haben will, nachdem ihn der Wähler gerade erst durch die Vordertür Bonn hinausbefördert hat.


 
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