© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    12/99 19. März 1999


Kolumne
Überraschung!
von Klaus Motschmann

Die Reaktionen auf den Rücktritt Oskar Lafontaines von allen politischen Ämtern dokumentieren ein besorgniserregendes Politikverständnis in weiten Teilen unserer politischen Klasse. Wie schon bei anderen politischen Ereignissen der jüngsten Geschichte, ist wieder einmal durchgängig von "völliger Überraschung" die Rede, vom berühmten "Blitz aus heiterem Himmel", auf den "niemand vorbereitet" gewesen sei und der demzufolge "schwere Schocks" ausgelöst habe.

Man fragt sich, wie das möglich ist angesichts der reichen Erfahrungen unserer Generation mit "unerwarteten" Ereignissen. Sowohl der Fall der Mauer als auch der Zusammenbruch des kommunistischen Herrschaftssystems in Osteuropa, sowohl die Wahlerfolge der PDS und ihre Regierungsbeteiligung in Schwerin als auch der Kurden-Terror vor einigen Wochen in deutschen Großstädten haben wortwörtlich die gleichen Reaktionen der Überraschung ausgelöst – was freilich keineswegs überrascht, sofern man das in diesen Kreisen vorherrschende Geschichts-und Politikverständnis berücksichtigt. Es wird noch immer, trotz aller gegenteiligen Erfahrungen in der Geschichte, von der Fixierung auf ideologische Positionen und Begriffe bestimmt, vor allem dem Glauben an die Gesetzmäßigkeit der gesellschaftlichen Entwicklung: "Erst von da an werden die Menschen ihre Geschichte mit vollem Bewußtsein selbst machen; erst von da an werden die von ihnen in Bewegung gesetzten gesellschaftlichen Ursachen vorwiegend und in stets steigendem Maß auch die von ihnen gewollten Wirkungen haben." So Friedrich Engels in einer zentralen Aussage zum Verständnis des "wissenschaftlichen Sozialismus", die er allerdings mit eindeutigen Warnungen vor einer Mißachtung der Realitäten in der politischen Auseinandersetzung verband. Selbstverständlich sei zumindest für eine längere Zeit immer wieder mit Eingriffen des "rohen Faktums" in den Gang der politisch-gesellschaftlichen Entwicklung zu rechnen, auf die man vorbereitet sein müsse, um darauf reagieren zu können. Aus der möglichst raschen Reaktionsfähigkeit auf vermeintlich unvorhersehbare Ereignisse erwachsen Vertrauen und Kompetenz; auch dann, wenn man im Einzelfall keine Lösung weiß.

Was würde man von einer Klinik oder einer Fluggesellschaft, von einem Autofabrikanten oder einem Pharmakonzern halten, die auf ein angeblich nicht vorhersehbares Ereignis ähnlich "überrascht" oder gar "geschockt" reagieren würden? Selbstverständlich weisen sie ihre Mitarbeiter und die ihnen anvertrauten Menschen auf alle nur denkbaren "Risiken und Nebenwirkungen" und sonstigen Eventualitäten hin. Sie müssen nicht eintreten. Aber wenn sie eintreten, ist man zumindest nicht "geschockt", sondern darauf vorbereitet, die notwendigen Entscheidungen zu treffen.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen