© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    10/99 05. März 1999


Tierschutz: Illegaler Handel mit Luxusschals gefährdet Tibet-Antilopen
Massaker für die "Faser der Götter"
Ulrike Kirsch / Ulrich Karlowski

Ein entsetzlicher Anblick bot sich den chinesischen Wildhütern, die im vergangenen August bei der Patrouille durch die tibetanische Hochebene auf die Überreste von 800 weiblichen Tibetantilopen (Pantholops hodgsonii) stießen. Neben den gehäuteten Kavadern kauerten Hunderte gerade geborener Jungtiere. Die Wildhüter versuchten, einige durch Fütterung mit Milchpulver zu retten. Es war vergebens. Nach Schätzungen der chinesischen Forstbehörde werden jährlich bis zu 20.000 der streng geschützten zierlichen Huftiere gewildert. Der Grund: ihr als "Faser der Götter" bekanntes Unterhaar.

Aus dem dichten Tschiru-Haar läßt sich eine ganz besondere Wolle spinnen. Sie ist nur halb so dünn wie die feinste Kaschmirwolle, aber dennoch um ein vielfaches wärmer und Ausgangsstoff für das seltenste und teuerste Schultertuch der Welt, den Shahtoosh oder Ringschal. Die bis zu 3 mal 1,5 Meter großen Schals sind so fein, daß man sie problemlos durch einen Fingerring ziehen kann. Bis zu 18.000 Dollar legen Liebhaber für ein einzelnes Tuch auf den Tisch. Nach einer Legende wird ein in einen Shahtoosh eingewickeltes Ei nach ein paar Stunden in der Sonne hart.

Von den sagenhaften Schals wußten bereits von den Schlachtfeldern in Persien heimkehrende Soldaten Alexanders des Großen zu berichten. Doch ihre wahre Herkunft blieb über Jahrhunderte hinweg ein wohlgehütetes Geheimnis. Erst 1988 gelang dem amerikanischen Wildbiologen Georg B. Schaller der Nachweis, daß Shahtoosh-Wolle nicht wie bislang angenommen vom Haar der Kaschmirziege, sondern aus Tschiru-Haaren gewonnen wird.

Sommer mit Schneestürmen sind keine Seltenheit

Tschirus sehen aus, als seien sie der afrikanischen Steppe entsprungen, sind aber in Wirklichkeit eine mit Schafen und Ziegen verwandte Art. Ausgerüstet mit einem extrem warmen Haarkleid, konnten sie eine der lebensfeindlichsten Regionen der Erde besiedeln. Das ganze Jahr über durchstreifen sie in Herden die baumlose, windgepeitschte Trockensteppe der tibetanischen Hochebene in Höhenlagen von 3.700 bis 5.500 Meter. Im Winter herrschen hier Temperaturen von bis zu minus 40 Grad, selbst im Sommer sind Schneestürme keine Seltenheit.

Obwohl Handel und Verkauf der hauchzarten Schals, außer im indischen Bundesstaat Kaschmir, nach dem Washingtoner Artenschutzübereinkommen streng verboten sind, tauchen sie weltweit in vielen Edelboutiquen auf. Seit 1994 wurden allein in Frankreich bei Spezialrazzien 617 Luxusschals mit einem Gesamtwert von fast einer Million Dollar beschlagnahmt. In London wurden Polizisten, nachdem ihr Blick für die Luxusstücke geschärft worden war, im vergangenen Jahr fündig und stellten 138 Shahtooshs im Wert von über einer halben Million Dollar sicher. Das Zollkriminalamt in Köln will jetzt deutsche Zollstellen auf die illegalen Tücher aufmerksam machen, auch deutsche Zöllner sollen lernen, die leicht mit superfeinem Kaschmir zu verwechselnde illegale Ware zu erkennen. Ein Frauenschal mißt normalerweise zwei mal ein Meter, ist meist braun, beige oder grau und wiegt gerade einmal 100 Gramm. Seine Herstellung dauert mehrere Monate und kostet bis zu drei Tschirus das Leben. Richtig teuer sind die größeren, meist weißen Herrentücher, da Tschirus nur an Bauch und Hals weiß behaart sind.

Die Herstellung der kostbaren Ware wird von einigen wenigen Familien im Gebiet der Stadt Srinagar im indischen Kaschmir mit etwa 100.000 Angestellten bei einem geschätzten Jahresumsatz von 160 Millionen Dollar kontrolliert. Über Jahrhunderte hinweg galt ein Shahtoosh als Prestigebesitz der reichen indischen Oberschicht, den man nur zu den allerfestlichsten Anlässen trug und als wertvolles Erbstück von Generation zu Generation weitergab. Doch als die westliche Modewelt den sagenumwobenen Schal entdeckte, stieg die Nachfrage rasch an. 1992 kosteten Tschirufelle in Indien etwa 2.000 Mark pro Kilogramm, vier Jahre später lag der Preis bei etwa 3.000 Mark. Heute gehen Wilderer, ausgerüstet mit modernen Geländefahrzeugen und automatischen Waffen, in straff organisierten Banden meist in den Wintermonaten, wenn das Fell der Tiere am dichtesten ist und sie in tiefergelegene Gebiete wandern, auf die Jagd. Aus voller Fahrt schießen sie in die Herden und metzeln auf einem Beutezug mehrere Hundert Tiere ab.

Vor 100 Jahren waren es zehnmal mehr gewesen

Konnte der britische Kapitän C. G. Rawling bei einem Besuch Tibets im Jahr 1903 noch voller Faszination von riesigen Herden mit 15.000 bis 20.000 Tieren berichten, so gehen neue Schätzungen davon aus, daß sie nur noch selten aus mehr als 2.000 Tieren bestehen. Die Gesamtpopulation schätzt man auf 75.000 bis 100.000 Exemplare, vor 100 Jahren sollen es noch zehnmal mehr gewesen sein. "Wenn es mit der Wilderei in diesem Ausmaß weitergeht, werden die Tschirus in wenigen Jahren auf eine tragische Restpopulation geschrumpft sein", befürchtet Georg Schaller.

Obwohl chinesische Behörden seit 1990 etwa 3.000 Wilderer verhafteten und über 17.000 Tschiru-Häute und 1.100 Kilogramm Fell konfiszierten, konnten die Massaker in der Tibetanischen Hochebene nicht gestoppt werden. Vor vier Jahren gründete der chinesische Polizeioffizier Zhaba Doje die "Wild Yak Anti-Poaching Squad" aus 17 erfahrenen Anti-Wildererkämpfern. Bis September 1998 fing die Spezialeinheit im Qinghai-Plateau, einem Naturreservat von über 100.000 Quadratkilometern Größe, mehr als 400 Wilderer und beschlagnahmte 3.307 Felle, dann wurde Doje erschossen in seinem Haus aufgefunden. Offiziell heißt es, er habe Selbstmord begangen, Freunde Dojes gehen jedoch von einem von Wilderern in Auftrag gegebenen Mord aus. Trotz dieses Rückschlags wollen die chinesischen Wildhüter weiterkämpfen. In Indien versucht die "Wildlife Protection Society of India", den illegalen Handel aufzudecken, und auch der britische Premierminister Tony Blair will sich jetzt für ein Ende der Wilderei einsetzen. Während seines letzten Besuchs in Peking versprach er Professor Liang Congjie, Präsident der führenden chinesischen Naturschutzorganisation "Friends of Nature", sich bei britischen und europäischen Umweltbehörden für eine bessere Kontrolle des florierenden Shahtoosh-Handels stark zu machen. "Durch Unkenntnis, Gier und Nachlässigkeit ist der Bestand einer wundervollen Tierart in den letzten zwanzig Jahren drastisch zurückgegangen, damit die Reichen ihren letzten Modeschrei bekommen. Es ist jedermanns Pflicht und ein Akt des Gewissens", so Georg Schaller, "den illegalen Handel zu stoppen und dem Tschiru eine Zukunft in seinem entfernten Reich zu ermöglichen".


 
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