© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    09/99 26. Februar 1999


Futurismus: Vor 90 Jahren erschien in Paris Marinettis Manifest
Lautsprecher der Moderne
Thomas Clement

Am 20. Februar 1909 veröffentlichte der Schriftsteller Emilio Filippo Tommaso Marinetti auf der ersten Seite des Le Figaro eine programmatische Schrift, die mit allem aufräumte, was den Bildungsbürgern heilig war. Mit dem "Manifest des Futurismus" wollten er und seine Mitstreiter einen radikalen Schlußstrich unter alle Tradition ziehen.

Das Manifest verkündete die Gründung einer neuen Künstlergruppe und formulierte ihr ästhetisches Programm: "…Wir erklären, daß sich die Herrlichkeit der Welt um eine neue Schönheit bereichert hat: die Schönheit der Geschwindigkeit. Ein Rennwagen, dessen Karosserie große Rohre schmücken, die Schlangen mit explosivem Atem gleichen, ein aufheulendes Auto, das auf Kartätschen zu laufen scheint, ist schöner als die Nike von Samutrake. Drauf! Legt Feuer an die Regale der Bibliotheken! … Ergreift die Spitzhacken, die Äxte und die Hämmer und reißt … ohne Erbarmen die ehrwürdigen Stätten nieder!" Der laute und aggressive Tenor der Proklamation in einer der damals einflußreichsten Zeitungen der Welt war, was man heute einen "Medien-Coup" nennen würde. Das Echo war überwältigend und verdeckte völlig, daß es sich bei den Futuristen nur um Marinetti selbst und eine Handvoll namenloser Mailänder und Turiner Literaten handelte. Um den selbsternannten Gründervater und Chefpropagandisten scharten sich zudem die ebenfalls bis dahin unbekannten Maler Umberto Boccioni (1826–1916), Carlo Carrá (1881–1966), Luigi Russolo (1885–1947), Giacomo Balla (1871–1958) und Gino Severini (1883–1966), die auch im Gebaren und Duktus völlig in Marinettis künstlerischen Vorgaben aufgingen. Über Nacht kannte die gesamte Kunstwelt Marinetti und den Feuerregen weiterer Provokationen und Manifeste der Futuristen, deren Sprachrohr die von Marinetti geleitete Zeitschrift Poesia war. "Wir erklären…, 2. daß man gegen die Tyranei der Worte ‚Harmonie‘ und ‚guter Geschmack‘ revoltieren muß, 3. daß Kunstkritiker unnütz und schädlich sind, 4. daß man alle schon verwandten Motive wegfegen muß, damit wir unser wirbelndes Leben voll Stahl, Stolz, Fieber und Geschwindigkeit ausdrücken können." Es dauerte nicht lange bis, Künstler außerhalb des Kreises sich darum rissen, der Bewegung beizutreten. Die Futuristen wurden – kunstgeschichtlich gesehen – die Begründer aller Avantgarden wie Dadaismus, Surrealismus oder Konstruktivismus, in ihrer teils national, teils ideologisch geprägten Ausformung. In Rußland, Polen, Belgien, England und Deutschland beriefen sich Künstler aller Sparten auf der Suche nach neuen Ausdrucksmitteln auf die jugendliche Kraft und Frische des Futurismus.

Vor allem die italienischen Futuristen wollten sich aller Kunstformen bemächtigen und versuchten sich in der Malerei, Bildhauerei, Musik, Literatur und Theater, sowie in den aufkommenden neuen Künste der Städteplanung, Photographie, Film und Radio. Ja, das Leben sollte insgesamt futuristischen Forderungen folgen, sowohl im Verhältnis der Geschlechter, der Kindererziehung wie auch in Kleidung und Ernährung: Die Futuristen verachteten sogar der Italiener schon damals liebste Speisen, die diversen Pastagerichte, als verweichlichend und der Vergangenheit zugewandt ("passatistisch"). Auf öffentlichen Veranstaltungen gab es inszenierte Publikumsbeschimpfungen und nicht selten Handgreiflichkeiten.

Was heute als Leistung der Avantgarde angesehen wird, hat der Futurismus schon vorweggenommen: den Schock, die Auflösung der Grenzen, die Erweiterung des Kunstbegriffs, die Vision. Wieso fehlt Marinetti dennoch auf der Ahnentafel der modernen Kunst? "Wir wollen den Krieg verherrlichen – das einzige Heil für die Welt –, den Militarismus, den Patriotismus, die zerstörerische Geste der Anarchisten, die schönen Ideen, welche töten." Mit diesen und ähnlichen Brandreden warb Marinetti bei seinen Landsleuten für den Krieg, genau wie 1912 der damals sozialistische Redakteur des L’Avanti, Benito Mussolini, es tat. Die ambivalente Beziehung beider, die Ähnlichkeiten zwischen futuristischer und faschistischer Gewaltverherrlichung, die unübersehbaren Übereinstimmungen in der Erscheinungsform von Faschismus und Futuris-mus haben letzteren gewissermaßen auf ewig kontaminiert, während der Erstgenannte zu Lebzeiten kräftig von der Ver-bindung profitiert hat. Mussolini, der sich vor seinem Aufstieg zum Duce an futuristischen Unternehmungen beteiligt hatte, schöpfte auch später unübersehbar aus seinem "futuristischen Temperament", wie es Marinetti nannte. Daß es zwischen dem an die Macht gekommenen Faschismus als Garanten für Ordnung und Harmonie im Staat und den sich auch in den 20erund 30er Jahren revolutionär gebärdenden Futuristen unüberwindbare Gegensätze gab, spielt bei der Betrachtung heute keine Rolle.

Andere Eindrücke blieben haften: 1934 begrüßte Gottfried Benn "seine Exzellenz Marinetti" in Deutschland auf einem Bankett der Union Nationaler Schriftsteller: "Mitten in einem Zeitalter stumpfgewordener, feiger und überladener Instinkte, verlangten und gründeten Sie eine Kunst, die dem Feuer der Schlachten und dem Angriff der Helden nicht widersprach… Willkommen unter uns!" Ende 1942 erlebte Marinetti als 66jähriger hautnah den Krieg an der Ostfront am Don und mußte die katastrophalen Realitäten der der italienischen Truppen miterleben. Nach Mussolinis Sturz und dessen Rückkehr zu seinem frühfaschistischen Programmen in der Republik von Saló faßte der schwerkrank aus Rußland Zurückgekehrte kurzzeitig noch einmal schöpferischen Lebensmut, der sich in Hymnen auf die wenigen noch kampfbereiten italienischen Einheiten äußerte. Am 2. Dezember 1944 starb Marinetti in Bellagio.

Es ist wohl nicht weiter verwunderlich, daß der Futurismus als Schmuddelkind in der Familienchronik der modernen Kunst bis heute eher geringe Beachtung findet. Doch die anhaltende Verwirrung der Kunsthistoriker über sein Wirken hätte Marinetti, dem "bösen Geist der Avantgarde", sicher Freude bereitet.


 
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