© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    09/99 26. Februar 1999


Kurden in Deutschland: Nur die wenigsten Deutschen fragen nach den Gründen, warum die kurdischen Flüchtlinge ihre geliebte Heimat verlassen haben
"Wir wollen keine Sozialhilfe! Wir wollen kein dauerhaftes Asyl! Wir wollen keinen Doppelpaß!"
Hanno Borchert

Glaubt man den offiziellen Angaben, so sind an dem regnerischen Freitag vergangener Woche nahezu 4.000 der Schätzungen zufolge gut 25.000 Personen starken kurdischen Volksgruppe der Hansestadt Hamburg für ihren ungemein beliebten "Apo" (Onkel) Öcalan – den Bauernsohn aus einfachen Verhältnissen und Vorsitzenden der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), der wenige Tage vorher in die Fänge seiner türkischen Todfeinde geraten war – auf die Straße gegangen. Und während sich die meinungsführenden Medien in schlagzeilenträchtigen Meldungen überbieten und von einem "Kurdenkrieg in Deutschland" sprechen, will kaum jemand die Gefühle und Emotionen der Kurden nach der Völkerrecht verletzenden Entführung ihres Führers Abdullah Öcalan verstehen.

"Wir wollen keine Sozialhilfe! Wir wollen kein dauerhaftes Asyl! Wir wollen keinen Doppelpaß!" schallt es nicht nur einmal vom Lautsprecherwagen des Demonstrationszugs. Immer wieder versichern junge Kurden, daß sie keinen deutschen Paß haben wollen. Ein kurdischer Familienvater liefert für die unter Kurden weit verbreitete Ablehnung der deutschen Staatsbürgerschaft eine Begründung, die seiner Enttäuschung über diesen Staat Ausdruck verleiht: "Die türkische Soldateska hat unsere Dörfer und Felder zerstört, Frauen geschändet und selbst die Kinder mißbraucht und viele von uns erschossen. Tausende sitzen unter unvorstellbaren Bedingungen in türkischen Gefängnissen. Doch keiner in Deutschland spricht darüber!"

In der Tat haben der neue Kanzler und sein Innenminister andere Sorgen: Wir haben nichts mit diesen Problemen zu tun. Deutsche Straßen sind nicht Austragungsorte für innertürkische Konflikte. Wer sich gegen deutsche Gesetze stellt, wird ausgewiesen, tönt es aus Bonn. Zum 75. Jahrestag der Gründung der türkischen Republik hieß es in dem Glückwunschschreiben Schröders an die Türkei: "Die Türkei blickt heute mit Recht stolz auf 75 Jahre republikanische Geschichte zurück. In den vergangenen Jahrzehnten ist die Türkei zu einem geachteten Mitglied der internationalen Staatengemeinschaft, zu einem verläßlichen Partner in der NATO geworden. Ihr Staatswesen baut auf den großen Leistungen ihres Gründers, Kemal Atatürk, einem der großen Reformer unseres Jahrhunderts, auf. Ich bin mir sicher, daß die Türkei auf ihrem Weg in die europäische Staatenfamilie auch künftig voranschreiten wird, wenn sie sich im Sinne Atatürks den Herausforderungen unserer Tage stellen wird. Die Bundesrepublik Deutschland ist bereit, der Türkei auf diesem Wege alle erforderlichen Hilfestellungen zu gewähren…"

Hilfestellungen der besonderen Art gab es schon früher: Als die DDR von der Landkarte verschwand, hinterließ sie eine komplette funktionstüchtige Armee. Einen Teil der Panzerfahrzeuge der Nationalen Volksarmee (NVA), Waffen aller Art und diverse technische Ausrüstung verschenkte die Regierung Kohl ihrem NATO-Freund am Bosporus. Schon bald darauf waren die Gewehre und Panzer wieder zu sehen: bei der Zerstörung kurdischer Dörfer!

Diese Art der Zusammenarbeit hat Tradition: Schon einmal, während des Ersten Weltkrieges, hat Deutschland dem damaligen Osmanischen Reich logistische Hilfestellung gegeben: bei der Ausmordung der Armenier. Bis heute wird dieser Völkermord in keinem der beiden Nachfolgestaaten thematisiert.

Wer nun Kurdistan auf den gebräuchlichen Landkarten sucht: Fehlanzeige! Es gibt keinen Nationalstaat dieses Namens, wohl aber ein Volk von schätzungsweise 25 Millionen Menschen. Diese leben im Zentrum des Mittleren Ostens. Ihr Siedlungsgebiet reicht vom Iran im Osten bis rund 100 Kilometer vor der Mittelmeerküste im Westen, von der Grenze zu Armenien im Norden bis zur Höhe Bagdads im Iran. Es erstreckt sich über rund 550.000 Quadratkilometer, eine Fläche so groß wie Frankreich. Das kurdische Volk verteilt sich heute auf die Türkei (12 Millionen), den Iran (5,5 Millionen), den Irak (3,7 Millionen) und Syrien (0,5 Millionen). Desweiteren leben beträchtliche Minderheiten in Armenien, Aserbaidschan und im Exil in Europa. Die Schätzungen für Deutschland belaufen sich auf zwischen 500.000 bis nahezu 600.000 Kurden.

"Die heutige Aufteilung Kurdistans ist ein Ergebnis der Auflösung des damaligen Osmanischen Reiches nach dem Ersten Weltkrieg", erläutert der Familenvater im Anschluß an die friedlich verlaufende Demo bei einer heißen Tasse Kaffee in einem kurdischen Lokal. "Im Friedensvertrag von Sevres von 1920 trat das Osmanische Reich einen Großteil seines in Jahrhunderten eroberten Gebietes an die imperialistischen Staaten England und Frankreich ab. Auch ein selbständiges Kurdistan war vorgesehen. Dann aber wurde, nachdem Mustafa Kemal – Atatürk, der Vater der Türken – an die Macht gekommen war, der Vertrag von Sevres revidiert und unter erheblicher Mitwirkung der Engländer und Franzosen von einem selbständigen Kurdistan abgesehen. Seitdem ist das türkische Herrschaftssystem, das man auch als kemalistisches System bezeichnen kann, bestrebt, eine homogene zentralstaatliche türkische Nation zu schaffen, in der nicht-türkische Völker nicht vorkommen dürfen."

Tatsächlich gibt es in der Türkei seit ihrer Gründung ein Verbot die kurdische Frage zu diskutieren. "Die offizielle Ideologie der Türkei bewertet Kurden und Kurdistan und alle Autonomiebestrebungen unseres Volkes als Terror. Aber bitte, was ist Terror? Terror meint die Anwendung von Gewalt, um Andersdenkenden die eigene Anschauung und das eigene Denken ohne Wenn und Aber aufzuzwingen und entgegenlaufende Ansichten mit allen Mitteln zu verhindern. Wir sind nun einmal Kurden und keine Türken. Ich denke schon, daß wir eigentlich gut mit den Türken auskommen könnten, aber in unserem Land führen sie sich als Besatzungsmacht auf. Sie erklären uns kurzerhand zu ‘Osttürken’ beziehungsweise ‘Bergtürken’. Das geht nicht. Uns geht es zuvorderst um die völkerrechtlich legitime Anerkennung unserer kurdischen Kultur, Sprache und Identität und um das Recht auf ein menschenwürdiges Leben. Doch als politisches Verbrechen wird in der Türkei schon das öffentliche Sprechen unserer Sprache oder das Tragen unserer kurdischen Nationalkleidung unter drakonische Strafe gestellt."

Mahir erzählt von den Tausenden "politischen" Gefangenen, die schlimmsten Repressionen bis hin zur Folter ausgesetzt sind. "Auch viele Kinder und Jugendliche sind in den Gefängnissen. Die Türkei befindet sich in einem Vernichtungskrieg gegen das kurdische Volk, und nicht, wie sie es darzustellen versucht, in einem Kampf gegen eine ‘terroristische’ Minderheit mit Namen ‘PKK’."

Die mit der systematischen Zerstörung ganzer Dörfer und Landstriche einhergehende Vertreibung der Menschen aus ihrer Heimat spricht Bände. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen leben heute über sieben Millionen Kurden in den "Gecekondus", den Slums der türkischen Großstädte wie Istanbul, Ankara oder Izmir. Ihre Heimat wurde total verwüstet, ihre Lebensgrundlagen wurden zerstört. Kurden, die in ihrer Heimat verblieben sind, haben die meisten Lebensjahre entweder unter Kriegsrecht oder im Ausnahmezustand verbracht. Aber in der emotional aufgeladenen gegenwärtigen Diskussion in Deutschland kommt kaum jemand auf die Idee, auf die Ursachen der "Kurdenfrage" hinzuweisen, geschweige denn, Lösungsvorschläge zu erarbeiten. Deutschland verschließt Augen und Ohren vor dem verzweifelten Aufschrei des kurdischen Volkes und droht statt mit Druck auf die Türkei mit der Abschiebung in dieselbe.

Nicht viel anders als den meisten Kurden in Deutschland erging es Mahir: Seine Familie komme ursprünglich aus der Nähe von Bitlis, einer kleinen Stadt in Zentralkurdistan. Sie seien seit vier Jahren in Deutschland. Zuerst hätten sie nach Diyarbakir, der heimlichen Hauptstadt Kurdistans, ziehen müssen. Doch auch Diyarbakir, das vor zehn Jahren etwa 400.000 Einwohner hatte, ist heute mit Flüchtlingen überfüllt und beherbergt nun 1,5 Millionen Menschen. Und täglich werden es mehr.

"Ich habe oft Heimweh, Kurdistan ist ein wunderschönes Land, und ich würde mir so sehr wünschen, daß meine Kinder in Kurdistan aufwachsen könnten." Und nach einer langen Pause fügt er hinzu: "Aber keiner von uns gibt die Hoffnung auf, zurückzukehren nach Kurdistan."


 
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