© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    09/99 26. Februar 1999


Kurdistan: Die Perspektiven der PKK nach der Verhaftung Abdullah Öcalans
Enthauptet, aber nicht kopflos
Peter Boßdorf

Die Welle der weitgehend spontanen Empörung exilierter Kurden über die Entführung Abdullah Öcalans ist abgeebbt. Breitflächig war sie in ganz Europa – nicht zuletzt in Deutschland – zu verspüren und führte vor Augen, daß die kurdische Frage nicht mehr eigens auf die europäische Tagesordnung gesetzt werden muß, sondern sich längst auf dieser befindet. Die Kurdische Arbeiterpartei (PKK) dürfte ohne größere organisatorische Probleme zu schmerzhaften Nadelstichen fast überall auf unserem Kontinent in der Lage sein und bleiben. Da dies aber den Druck auf die jeweiligen politischen Entscheidungsträger erhöhen würde, ihr die legalen oder halblegalen Betätigungsmöglichkeiten vollends zu verwehren, kann es nicht in ihrem Interesse liegen, eine derartige Konfrontationsstrategie zu verfolgen. Somit haben die Appelle von PKK-Offiziellen, die Gesetze der Gastgeberländer zu respektieren, vermutlich nicht nur Alibicharakter – zudem schreiben sie den Kurs fort, den Öcalan selber vor einigen Jahren beschritten hat.

Anderes wäre nur zu befürchten, wenn die PKK tatsächlich mit dem Rücken zur Wand stünde. Doch davon kann weiterhin nicht die Rede sein. Die türkische Regierung hat mit ihrem spektakulären Coup ihr Pulver auch schon verschossen. Es mag sein, daß dies ausreicht, um aus den anstehenden Parlamentswahlen gestärkt hervorzugehen und das Militär von der politischen Verantwortung, die es de facto trägt, ein wenig zu entlasten. Die Entscheidung über eine Eskalation des Kampfes liegt aber nicht mehr bei ihr, sondern bei der PKK. Eine einschneidende Änderung des "Kriegsbildes" zeichnet sich ab. Die PKK wird zwar weiterhin ihre Fähigkeiten aufscheinen lassen, klassischen Partisanenkampf im als Nordkurdistan beanspruchten Osten der Türkei zu führen. Darüber hinaus könnte sie versuchen, Anschläge nun auch in türkischen Großstädten zu verüben, wie seit Tagen in Istanbul. Diese Erweiterung der Handlungsoptionen bedarf keiner zusätzlichen Ressourcen: Der Krieg in den ländlichen und schwer zugänglichen Provinzen im Osten findet unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt, und er ist militärisch für die PKK nicht zu gewinnen. Die verbliebenen – vielleicht 2.000 bis 3.000 – Kämpferinnen und Kämpfer reichen aber aus, um türkisches Militär in unverminderter Größenordnung zu binden – mit den entsprechenden Kosten, die ihre Bereithaltung dem Staatshaushalt aufbürdet, und dem geringen Prestige, das der Krieg einem offenkundig nicht zur Befriedung tauglichen Militär einbringt. In die Städte wiederum kann der Krieg mit vergleichsweise überschaubaren Mitteln getragen werden: öffentliche Wirkung dürften auch Anschläge erzielen, die keine große Logistik erfordern. Ausgerechnet die langjährige Praxis der Türkei, Kurden aus dem Osten zu deportieren und in den Ballungszentren anzusiedeln, könnte nun der PKK in die Hände spielen. Allerdings widersprächen blindwütige Anschläge dem Selbstverständnis einer Bewegung, die sich schon aus ihrer internationalistischen Herkunft her zumindest den Worten nach nicht im Gegensatz zum türkischen Vollk, sondern einzig zum türkischen Staat sieht. Die Schwerpunktverlagerung von einem die Regeln des Kriegsvölkerrechts beanspruchenden Kampf zum Terror könnte zudem – auch in der Türkei selbst – die Sympathien jener verspielen, die weniger die Ziele der PKK teilen als vielmehr die Methoden mißbilligen, mit denen gegen sie vorgegangen wird.

Ein Versinken in Diadochenkämpfen scheint der Partei jedenfalls erspart zu bleiben. Die reale Nachfolge – nominell bleibt Abdullah Öcalan wohl der Chef – könnte auf ein Kollektiv übergehen, Spekulationen kreisen um ein Triumvirat. In ihm könnte Osman Öcalan eine Rolle spielen, der als weniger impulsiv gilt als sein älterer Bruder, allerdings auch als weniger charismatisch. Eine starke Position dürfte Cemil Bayik zufallen, der als populärer Feldkommandant auch die latente Entfremdung zwischen der PKK und ihrem militärischen Arm, der Volksbefreiungsarmee Kurdistans (ARGK), überbrücken könnte und zudem den Respekt von Kurden genießt, die ansonsten auf prononcierter Distanz zur Partei stehen. Als dritter Name wird der von Kani Yilmaz gehandelt, eine loyal zu Abdullah Öcalan stehende Führungspersönlichkeit um die vierzig, die über reichlich Europa-Erfahrung verfügt.

Das Problem dürfte in der nächsten Zukunft also nicht die Führung sein, sondern die Ablehnung. Der Unterschlupf, den Damaskus bot, erlaubte in unmittelbarer Nähe zum Kampfgebiet eine Steuerung der politischen und militärischen Aktivitäten, die nur auf bestimmte syrische Empfindlichkeiten Rücksicht nehmen mußte, sich ansonsten aber in Sicherheit vor den Zumutungen all der Mächte wähnen durfte, die in der Region engagiert sind. Diese Bedingungen findet die PKK derzeit nirgends – wo immer sie auch Unterstützung oder Duldung erfährt.

Das Dilemma, vor dem bereits Öcalan stand, kann auch durch eine neuerliche Eskalation nicht aus dem Weg geräumt werden: Den Schlüssel zu einer politischen Lösung des Problems halten nicht die Kurden, sondern die Türken in den Händen. Sie können zwar die PKK nicht ausradieren, hätten aber durchaus die Option, ihr durch eine konziliante Minderheitenpolitik das Wasser abzugraben. Dies hieße jedoch eine Abkehr von jener Staatsräson, die seit fast acht Jahrzehnten verbindlich ist: Nicht einmal die Amerikaner dürften sie erzwingen können, wenn sie es denn jemals wollen sollten. Die Türkei sieht sich als eine Macht mit dem Anspruch, hegemonial auszugreifen. Dies verträgt sich nicht mit einer Politik, die die Grenzen im Innern neu abstecken will. Da sich der Siegfrieden allen naiven Erwartungen zum Trotz immer noch nicht einstellen will, wird man es sich nicht nehmen lassen, wenigstens Abdullah Öcalan vorzuführen. Die ersten Videoaufzeichnungen mit der Trophäe gaben bereits einen Vorgeschmack darauf, was in Kürze auf dem Spielplan stehen wird. Auf Abdullah Öcalans Anhänger dürfte dies keinen desorientierenden Einfluß haben. Sie werden vermutlich um eine Antwort nicht verlegen sein.


 
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